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- XVIII —
1. Das Wesen der Seele.
Die selbständige Existenz der Seele stand für Herder
außer allem Zweifel. Die Lehre des Materialismus, daß der
Begriff Seele lediglich die Summe mechanischer Bewegungen
der Gehirnzellen bezeichne, also nur eine Funktion materieller
Substanzen darstelle, lag ihm völlig fern. Wir erwarteten es
nicht anders. Keiner der großen Denker des 17. Jahrhunderts
— weder Descartes noch Spinoza, weder Locke
noch Leibniz — war Materialist; ebensowenig waren es
Kant und die philosophischen Leuchten des 19. Jahrhunderts.
Es ist nun ganz selbstverständlich, einen Herder in dieser
Reihe zu suchen. Besonders war er von Leibniz inspiriert.
Seine psychologische Hauptschrift „Vom Erkennen und
Empfinden der menschlichen Seele" 1778, wird von einem
seiner Biographen1) als „Summe der Leibniz'schen Philosophie
im Widerschein des Herderschen Geistes" charakterisiert
. Leibniz vertrat das schroffste Gegenteil des Materialismus
. Nach seiner Lehre besteht die Welt aus unausgedehnten
(immateriellen) Substanzen, den Monaden, die
das Universum in verschiedenen Klarheitsgraden denkend
hervorbringen. Die Materie selbst existiert nicht; was man
Körperlichkeit nennt, ist nur eine verworrene Vorstellung.
Richtig hat Herder den Standpunkt Leibnizens folgendermaßen
interpretiert: „daß der Körper als solcher nur ein
Phänomenon von Substanzen sei, die in der Vermischung
und Verwirrung eine Substanz scheinen, wie's die Milchstraße
, Nebelsterne, Regenbogen und unzählige Phänomene
der Natur sind . . . Der Körper ist in Absicht der Seele
kein Körper, ist ihr Reich: ein Aggregat vieler dunkel
vorstellender Kräfte, aus denen sie ihr Bild, den deutlichen
Gedanken sammelt. . . . Den Grund des Aggregats vom
Körper finde ich nicht anders als in der Seele." Als
Spiritualismus ist diese Anschauung zu bezeichnen, die nur
dem Geist, aber nicht dem Körper selbständige Existenz
zuschreibt.
Und doch war Herder kein strenger Spiritualist. Jir
ist für die Forderung eingetreten, die damals Haller2)
erhoben hatte, daß die Seelenlehre von der Physiologie
1) Rud. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken. 1880 ff.
Als gleichwertig sei die Herderbiographie von Engen Kühnemann, München
1912, genannt.
2) Albr. v. Haller, 1708—1777, Schweizer von Geburt, Professor in
Göttinnen, bahnbrechend als Physiologe, Anatom und Botaniker, bekannt
als Verfasser des beschreibenden Lehrgedichtes „Die Alpen" und philosophischer
Gedankendichtungen.
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