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V
-echtleibnizsche Motiv der Kontinuität, des ununterbrochenen
Zusammenhanges aller Stufen der Erscheinungswelt
. „In der Natur ist nichts geschieden, alles fließt durch
immerkliche Uebergänge aus- und ineinander; und gewiß,
was lebendig in der Schöpfung ist, ist in allen Gestalten,
Formen und Kanälen nur ein Geist, eine Flamme."
Vom Unbewußten zum Bewußten steigt das Seelenleben
auf; doch war das letztere im ersteren schon enthalten
; denn die ganze Schöpfung ist beseelt von unbewußt
wirkenden Kräften.
Der Einheitlichkeit von Leib und Seele entspricht eine
innere Einheit der Seele, die Herder gegenüber der
herrschenden Auffassung seiner Zeit, der Theorie verschiedener
Seelenvermögen, behauptete. Man schied mit Wolff
obere und untere Seelenkräfte oder nahm mit Sulzer, unter
dessen Einfluß Herders Akademie-Preisarbeit „Vom Erkennen
und Empfinden" durchfiel, zwei gleichwertige Grund-
krälte an. Schließlich ging man zu einer Mehrzahl von
seelischen Vermögen über und statuierte ein solches der
Erinnerung, der Voraussicht, der Wahrnehmung des Aehn-
lichen und des Verschiedenen u. a.1)
2. Die Menschenseele als Gattung.
Das Prinzip der Kontinuität waltet nicht bloß im Werden
des Seelischen aus dem Köfperlichen, des Bewußten aus dem
Unbewußten, sondern auch in der Reihe der Seelengattungen
. Denn alles ist in der Natur verbunden, ein Zustand
strebt zum andern und bereitet ihn vor. Herder sah ebensowenig
zwischen Tierseele und Menschenseele eiserne
Bretter wie zwischen Materialität und Geistigkeit; er behauptete
auch hier eine Entwicklungsmöglichkeit und feine
unmerkliche Uebergänge von einem zum andern. Zwar
betonte er in der Schrift über die Sprache vom Jahre 1771
einen gegnerischen Unterschied zwischen Tier und Mensch
anstatt eines bloß graduellen und erkannte ihn in der Verschiedenheit
des Verhältnisses zwischen Extension und In-
tension des beiderseitigen Seelenlebens. Die tierische
Psyche umfasse eine kleinere Sphäre, dafür seien ihre Sinne
und Triebe schärfer. Der Mensch empfinde schwächer, doch
habe seine Seele den Zug ins Weite, zum Universum. In
den „Ideen" 2) hat Herder diesen Unterschied anatomisch
begründet: er leitet die Ueberlegenheit des Menschen
letztlich von seiner aufrechten Gestalt ab, die Schädelform
l) Näheres Wi Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie
, 1902, S. 377-391.
a) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. III, 6, IV, 1, 3.
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