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40 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 1. Heft. (Januar 1924.)
überhaupt vielfach Schranken gesetzt; hier tritt das psychologische
Verstehen in seine Rechte, wir können nicht quantitativ berechnen,
warum Goethe Frau von Stein verlassen hat, wir können das nur
in einem Einfühlungsprozeß verstehen. Es klingt grotesk, daß
man das überhaupt betont, aber dieser Hinweis zeigt erst so recht,
was das quantitative Erklären der Naturwissenschaften will, sowie
daß es dafür prinzipielle Grenzen gibt, denn wenn auch
sämtliche Atombewegungen im Gehirn von Goethe bekannt wären,
so wären es eben nur Atombewegungen, aber keine Gemütsbewegungen
, Willensentschlüsse usw.
Der Naturwissenschaftler pflegt nun der Meinung zu sein, daß
die Welt als Ganzes ein rationaler Prozeß ist, den wir allerdings
noch nicht ganz durchschauen; für diese Anschauung ist die Welt
im Grunde ein ungeheurer Mechanismus, der im Prinzip bis in
alle Einzelheiten errechenbar ist, wenn uns zurzeit auch noch
einige Daten fehlen.
Wie das letzte Beispiel von Goethe und Frau von Stein zeigt,
darf man also wohl von vornherein überhaupt bezweifeln, ob es
möglich ist, die Welt in naturwissenschaftlichem Sinne zu erklären
, denn das Qualitative geht nicht in den naturwissenschaftlichen
Erkenntnisprozeß ein. Dies sich einfühlende Verstehen
pflegt der naturwissenschaftlich Gerichtete deshalb auch fast
immer zu ignorieren und auf die Frage hin, ob denn die ganze
Welt überhaupt rationalisierbar sei, zu sagen, es fehle uns nur
noch an einigen Kenntnissen, um die ganze Welt in ein ungeheures
Rechenexempel zu verwandeln und sie restlos zu begreifen wie
eine Maschine, er vertritt meist ganz naiv den Standpunkt, daß
an der Rationalität und der Rationalisierbarkeit der Welt kein
Zweifel sein könne. Es handelt sich also darum, ob er mit dieser
Behauptimg recht hat, wobei der Kürze halber ganz davon abgesehen
werden) soll, daß dies eben erwähnte, einfühlende Verstehen
ein ganz anderer Prozeß ist, als das von ihm gemeinte
Erklären, das alles auf Bewegungen im Räume zurückführen will.
Bevor wir auf die Frage der Berechtigung des naturwissenschaftlichen
Standpunktes eingehen, sei kurz erwähnt, daß der
Rationalist sicherlich Recht damit hat, wenn er meint, daß man
häufig schon Dinge für besonders geheimnisvoll und wunderbar
gehalten habe, die bei genauerer Kenntnis sich durchaus begreifen
ließen. Als Beispiel dafür, wie Dinge, solange man sie
nicht durchschaut, für wunderbar magisch und irrational gehalten
werden, möchte ich den bekannten Gelehrten Carl Gustav Carus
zitieren. In seinem Buch über den Lebensmagnetismus (1858)
spricht Carus über das Wort „magisch" und versucht eine Definition
oder wenigstens Umschreibung des vieldeutigen Wortes.
Er meint bei der Gelegenheit, daß man es ja eigentlich schon
magisch nennen könne, daß einige Tropfen vom Blut eines milzbrandkranken
Tieres ein anderes Tier oder einen Menschen
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