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Tisdiner: Der Okkultismus im Verhältnis zu Irrationalismus u. Mystik. 83
richtig zu nennen. Und wenn die Wahrheit eines Urteils darin
besteht, daß es mit der Wirklichkeit übereinstimmt, so ist diese
Uebereinstfctnmung höchstens rein „zufällig" möglich, denn ich
fälle ein Urteil nicht, sofern und weil ich es für wahr halte, sondern
weil ich es so, wie ich es tue, notwendig tun muß. Es gibt
also weder „richtige" noch „wahre" Aussagen, sondern nur tatsächliche
und notwendige, der Begriff der Wahrheit wird überflüssig
und sinnlos, und man müßte jede Erörterimg töricht
nennen, wenn nicht ihr Eintritt und Verlauf als notwendiges Glied
im Weltenlaufe stattfinden müßte. — Man sieht, in welche
Schwierigkeiten man bei folgerichtiger Durchführung des Begriffes
der Gesetzlichkeit kommt. Aber auch der Gegenbegriff
der Freiheit stürzt uns in alle möglichen Verlegenheiten, er
bringt uns in Konflikt mit dem Satz von der ausnahmslosen kausalen
Bedingtheit alles Geschehens und fordert ein ursachloses
Geschehen, was unserer Kategorie der Kausalität widerstreitet.
Das alles ist wohl ein deutlicher Hinweis darauf, daß der Gegensatz
von Gesetzlichkeit un)d Freiheit ein Problem ist, das rational
nicht lösbar ist, sondern ein Reich des Irrationalen fordert und
voraussetzt.
Auch die Mathematik, die meist als rein rational aufgefaßt
wird, hat starke irrationale Elemente. Als der große Fortschritt
der neueren Mathematik gilt die Bewältigung des Unendlichen,
aber es wird nicht bewältigt, die Infinitesimalrechnung rechnet
nicht wirklich mit dem Unendlichen, sondern mit Näherung*-
werten, die endlich sind, «das Unendliche wird also nicht wirklich
in Endliches aufgelöst, sondern ulmgangen.
Alle dies Verhältnisse sind irrational, d. h. sie haben irrationale
Elemente, daneben aber haben sie auch rationale, sonst würden
sie überhaupt nicht in unser Denken eingehen können, denn
alles, was sich denken läßt, ist schon partiell rational. Diese
rationale Seite der Dinge erfaßt die mathematische Naturwissenschaft
und bildet daraus ihr Gebäude unter Vernachlässigung des
Irrationalen.
Auf andern Gebieten finden wir gleichfalls irrationale Elemente
, z. B. auf dem Gebiet der Ethik, es ist noch nie gelungen,
das Böse in der Welt rational einzuordnen, sowohl das Prinzip des
Bösen ist irrational als auch seine einzelne Erscheinung, ja sie
ist widerrational. Das gleiche gilt von der Tatsache des Leidens,
das allen Versueben, es rational erklären zu wollen, getrotzt hat,
so daß sich schließlich der Gläubige auf den „unerforschliehen
Ratschluß Gottes" zurückgezogen hat, womit das Irrationale ja
offen, zugegeben wird.
Einen starken irrationalen Einschlag finden wir weiterhin auf
dem ästhetischen Gebiet. Bekanntlich hat man versucht, auch
dieses Gebiet mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu erklären;
ich erinnere z. B. an die Arbeiten von Heimholtz, der ver-
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