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92 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 2. Heft. (Februar 1924.)
stehen. Ich denke mit dieser Analyse einige bisher im Dunkeln
liegende Punkte beleuchtet zu haben, diese Klärung kann für
alle Beteiligten nur von Nutzen sein, wenn es vielleicht auch zuerst
schmerzhaft sein mag, lieb gewordene Gedankenpfade verlassen
zu müssen.
Wie wir schließlich sahen, folgt aus dem Versagen des Rationalismus
, daß auch andere Einstellungen der Welt gegenüber
noch ihr Recht haben und es ein Überspannen des Rationalismus
bedeutet, dem Glauben und Schauen ihr Recht bestreiten zu
wollen. Es ist im Gefüge der Welt selbst begründet, daß man
auch dem Irrationalismus Raum geben muß. Die Auseinandersetzungen
zwischen Glauben und Wissen haben auf einer andern
Grundlage zu erfolgen, als sie meist geführt werden, eine Anerkennung
dieser Tatsache könnte der Diskussion vieles von der
ihr oft anhaftenden Schärfe nehmen; man sollte dem Glauben
nicht nur aus ethischen Gründen Toleranz entgegenbringen, sondern
auch aus logischen Gründen seine Berechtigung prinzipiell
anerkennen.
Das „Naturevangelium44.
Von .Uois K a i ii d 1. Linz (Österreich).
„Und wie steht es mit dem Naiurevangelium?*', so tragt Hei r
Heinrich Bode in seiner vortrefflichen Entgegnung *) auf nieinen
Artikel „Inverlismus".
Bündig und klar formuliert Stuart Mi 11 diese hochbedeutsann*
Frage, Lidern er sagt: „Wie weit ist die Lehre richtig, welche in
die Natur das Maß des Rechts und des Unrechts, des Guten und des
Bösen legt und als leitendes Prinzip für den Menschen die Übereinstimmung
mit der Natur oder die Nachfolge der Natur aufstellt?* ,
und Pobjedonoszew, der sie in seinem Buche: „Sammlung Mos-
kowitischer Studien'**) zitiert, knüpft daran folgende Bemerkung:
„Diese Lehre erkennt Mill nicht an, weil er in der Natur weiter
nichts sieht als eine blinde Gewalt. Sie erzeugt Wünsche, welche
sie nicht erfüllt, bringt große Fähigkeiten, Kräfte und Taten henor,
um in einem Augenblicke sie zu zertrümmern, — mit einem Worte:
zerstört blind und zufällig alles das im Momente, was «sie selbst
hervorbrachte. Deshalb weigert sich Mill, au£ die Natur irpendein
System der Tugend oder Religion zu gründen." — -
Wer, wie Stuari Mill, in der Natur nicht mehr siebt als das „sinnlose
Walten roher Kräfte", dem kann allerdings nicht zugemutet werden
, eine lleilslehre auf sie zu gründen.
Es ist klar, daß eine so niedere Einschätzung der Natur auf einer
einseitigen Betrachtungsweise beruht, insofern hierbei nur die aus dem
Jndbidualisationsprozeß und einer rudimentären Entwicklung resnl-
* •
;<) ,,Das Gesetz der Klugheit von Heinrich Bode, Jagenbaeh, X -Ot .
..Psychische Studien" Sept.-Heft 1920. — L. Piersons Verlag, Dresden.
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