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Neumann: Parapsychologie
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unten und darauf die Quinte des ersten Tones zum Erklingen gebradht
Plötzlich «etwas Seltsames: sämtliche Saiten des Klaviers ertönen gleichzeitig1
, wie wenn eine Hand mehrmals über sie hin streiche. Und dieses
Phänomen wiederholt sich fünfmal
Ein andermal wurden in einer Entfernung! von fast 2 m hinter dem
Medium ein Briefbogen und ein Bleistift gelegt. Kurz nach dem Einschlafen
des Mediums tappt das schon erwähnte Etwas im Zimmer
herum und macht sich an dem Platze zu schaffen, wo Papier und Bleistift
liegen. Man hört den Bleistift ein wenig auf der Unterlage hin-
und herrollen, und dann vernimmt man das Geräusch des Schreibens
auf dem Papier, etwa 5 Minuten lang. Nachdem das Schreiben aufgehört
hat, wird mit dem Bleistift leise auf das Holz der Unterlage
geklopft, mehrmals hintereinander, kurz und bestimmt. So, als ob das
Etwas mitteilen wollte, daß es nun fertig sei. Es wird Licht gemacht,
und wir finden auf dem Briefpapier neun Zeilen hingekritzelt, in
Spiegelschrift, unleserliche Worte. Ein andermal werden in Spiegelschrift
gut leserliche polnische Satze gleichgültigen Inhaltes geschrieben.
Ich sah ferner das Medium Stanislas Zborowski, einen jungen
Volksschullehrer, dessen mediale Energie von außerordentlich großer
Stärke ist. Bei dieser Sitzung gab es einen richtigen Hexensabbatiii
Leichtere und mittelschwere Gegenstände des Zimmers flogen, von
unsichtbaren Kräften getragen, wie Gummibälle im Zimmer herum.
Ein etwa 7—10 kg schweier vierbeiniger Tisch wurde bis zu 2 m
Höhe in die Luft gehoben und hier unter lautem Krachen in Stücke
gebrochen. Da dieses Medium teilweise bei ganz hellem Rotlicht
arbeitet, sah ich den leviticrten Tisch frei in der Luft schweben.
Zborowski ließ eine über 100 kg schwere eiserne Personenwage (wie
sie die Aerzte in den Sprechstunden haben) in den Kreis der etwa
20 Sitzungsteilnehmer schweben, wobei sie sanft auf die Knie eines der
Anwesenden gelegt wurde.
Eine der seltsamsten Fähigkeiten der mediumistischen Persönlichkeiten
ist das sogen. Hellsehen. Ich lernte in Warschau den berühmten
Stefan Ossowiecki kennen, der wohl der begabteste Hellseher der
Jetztzeit ist. Er ist Ingenieur und Industrieller von Beruf, und er macht
von seinem seltsamen Zustande nur aus rein menschlichen und aus
wissenschaftlichen Gründen Gebrauch. Man kann diesem Manne einen-
Brief mit mehreren Hüllen vorlegen, nach wenigen Minuten beschreibt
er sämtliche Hüllen, sagt den Inhalt des Briefes, schreibt au? oder
zeichnet, was da geschrieben oder gezeichnet war, auch wenn keiner
der Anwesenden es wußte. Er sieht dann den Verfasser des Briefes,
der vielleicht Hunderte von Kilometern entfernt wohnt und von dem
er vorher nie etwas gehört hat, und beschreibt schließlich auch das
Zimmer, in dem der Schreiber sich aufhielt Er könnte der größte
Detektiv der Welt sein, aber das lehnt er ab. Ich werde in einemi
besonderen Aufsätze über ihn beriditen.
Genug: es ist unmöglich, hier alles aufzuzählen, was man an metapsychischen
Phänomenen in Warschau zu sehen bekam. An dem tatsächlichen
Vorkommen dieser Phänomene gibt es nun keinen Zweifel
mehr; trotz allem, was auf diesem Gebiete an Schwindel und Betrug
geleistet worden ist und noch geleistet wird.
Für den Wissenschaftler aber erhebt sich nun die Frage: Was
ist der Sinn der mediumistischen Erscheinungen?
Was steckt hinter dieser Telekinese, Telepathie; was hinter Materialisationen
, Hellsehen und Teleplastie? An sich betrachtet sind dies»
Phänomene (mit Ausnahme vielleicht des Hellsehens und der Telepathie)
ja hödhst zwecklos und nichtssagend. Aber wenn man einmal diese
Dinge erlebt hat, so sieht man, daß sich hinter den unscheinbaren
Aeußerungen der mediumistischen Energie tiefe Probleme der Psychologie
, der Biologie, der Physik und nicht zuletzt der Philosophie ver-
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