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190 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 3. Heft. (März 1924.)
schlingt und sie ins Phantastische emporhebt, etwas anderes auch als
das Märchen, das von erdichteten Gestalten, meist Menschen, weiß und
Wunderliches von ihnen erzählt. Mythisch ist dagegen jede Anschauung
vom Göttlichen oder von Göttern, zumal wenn eine weltumspannende
, weltbewegende Idee hierin zum Ausdruck kommt, die
Natürliches und Geistiges auf einem Boden miteinander verbindet.
Seinem Inhalt nach ist der Mythos primäre Wissenschaft, die sich vor
Rätselhaft-Unerklärtes gestellt sieht, und deren schaffende und ge-
. staltende Phantasie der Kontrolle des kritischen Verstandes sich (noch)
entzieht. So gibt es Weltentstehungs- und Weltuntergangsmythen,
Götter und Geistermythen, kosmologische, ätiologische und kultische
Mythen. Seiner Form nach ist der Mythos primitive Poesie, anschauliche
Schilderung seelisch belebter Gegenstände in dichterischer Ge~
staltungskuxist. So weiß auch die Bibel von einem Schöpfungsrnythos,
von Ehen der Gottessöhne mit den Menschentöchtern (i. Mos. 6), von
Stern- und Drachenmythen (Hiob), von Engel- und Kultmythen zu
erzählen. Aber in das eigentliche Gebiet des Okkulten fällt das alles
nicht.
Aber auch drittens, die Metaphysik ist ein Gebilde eigener
Art, die mit Okkultismus so gut wie gar nichts zu tun hat. Denn sie
liegt ganz in der wissenschaftlich-philosophischen Sphäre; sie ist die
Wissenschaft vom Uebersinnliehen, Transzendenten, soweit dieses nicht
durch Anschauungen feststellbar, sondern durch Begriffe, Schlüsse,
Urteile auffindbar ist. Metaphysisch ist die Weltanschauung, die
es mit den Grundbegriffen alles Erkennens und den letzten Gründen
des Seins zu tun hat, z. B. Sein, Werden, Substanz, Materie, Grund,
Raunt und Zeit usw. Eine einheitliche Welterkenntnis soll hier zum
Abschluß gebracht werden, die ihre Vollendung im Höchstbegriff
des Absoluten sucht und findet. Es sind rein denkerische Prozesse,
die sich hier abspielen, spekulierende Denkoperationen, kombinierende
Tätigkeiten des reflektierenden, räsonnierenden Verstandes, der inflek-
tierenden Vernunft. Und es gibt in der Tat eine wertvolle Erweiterung
unserer Erkenntnis, die nicht durch Erfahrung und das Experiment
, sondern durch Urteile und Beziehungen zustande kommt,
üoeh hat das alles weder mit der religiösen Welt der Bibel noch auch
mit dem Okkultismus etwas zu tun.
Dieser unterscheidet sich endlich auch scharf und klar von dem,
was man als Mystik zu bezeichnen pflegt. Es* gibt eine zwiefache
Mystik: die sogenannte Seins- und Wesensmvstik, die auf dem Wege
des Nachdenkens oder Sichversenkens eine Verbindung mit dein
unendlichen Sein sucht (Indien, Neuplatonismus), und jene naturhaft-
ekstatische Mystik des Rausches und der Verzückung, wie sie in den
orgiastischen Kulten Kleinasiens und Griechenlands als Ausdruck der
Fruchtbarkeit- oder der Unsterblichkeitssehnsucht betrieben wurde.
Davon deutlich unterschieden ist jene zarte, innige, keusche Mystik
der Gottesminne und der kreatürlichen Gottverbundenheit, wie sie uns
in der Klosterfrömmigkeit, aber auch vor allem bei den deutschen
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