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206 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1924.)
I. Alle unsere Wahrnehmungen sind Bewußtseinsinhalte. Handelt
es sich dabei um eine Erkenntnis unserer Innenwelt, so reden wir
von Selbstwahrnehmungen. Bei dem Erkennen der Außenwelt handelt
es sich um Sinneswahrnehmungen. Dem naiven Menschen ist seine
Persönlichkeit, sein Ich, einerseits und die Außenwelt anderseits eine
Selbstverständlichkeit. Dabei schreibt er ohne weiteres der Außenwelt
, so wie er sie erlebt, Realität zu. Aehnlich verhält es sich
mit seinem in den Selbstwahrnehmungen erlebten Ich. Der kritische
Mensch hingegen weiß, daß unmittelbar gegeben nur ein momentaner
Bewußtseinskomplex ist, von dem das Ichbewußtsein nur ein Teil ist.
Nicht einmal, daß dem momentanen Bewußtseinskomplex ein anderer
vorausgegangen ist, läßt sich exakt beweisen; denn das allerdings
vorhandene Erinnern an frühere Erlebnisse, an die Kontinuität des
seelischen Geschehens, woraus die Ichvorstellung vor allem entspringt,
braucht ja nichts anderes zu sein als eine Inhaltsgruppe des momen-
tanen Bewußtseinskomplexes. Wir müssen uns schon — erkenntnistheoretisch
— mit Wahrscheinlichkeitsgrünaen begnügen, um unser
ich für die Zeit unserer Rückerinnerung sicherzustellen. Ebenfalls
nur Wahrscheinlichkeitsgründe können wir beibringen für das Vorhandensein
einer Außenwelt, zu der auch unser eigener Körper gehört.
Wenn wir nun schon eine Außenwelt mit unbelebten und be-
lebten Körpern, sowie mit uns analogen Mitichs für wahrscheinlich
halten, so halten wir es für nichts weniger als wahrscheinlich, daß
die von uns angenommene Außenwelt so ist, wie sie uns in unserer
Wahrnehmung erscheint. Wir brauchen ja bloß daran zu denken,
wie eine Sinneswahrnehmung zustande kommt, und an die Rolle, die
dabei Sinnesorgane, sensible Nerven, Gehirn spielen, ferner, daß der
Hirnprozeß als solcher kein Inhalt unseres Bewußtseins ist, welche
Vorstellung man auch von dem Zusammenhang des psychischen und
physischen Geschehens haben mag.
Diese Betrachtungen haben uns schon von selbst zu Raum und Zeit
geführt und wir erkennen leicht, daß Raum und Zeit unmittelbare
Erlebnisse sind, einer eigentlichen Definition gar nicht fähig. Das
Nacheinander, das Ablaufen der psychischen Prozesse ist eben das, was
wir zeitlichen Verlauf nennen. Die Zeit ist die Form, ja die Urform
des seelischen Geschehens, des Erlebens. Sowohl bei Selbst- als auch
bei Sinneswahrnehmungen ist die Zeit beteiligt. Bei den Sinnes-
Wahrnehmungen gibt es aber außer dem zeitlichen Nacheinander noch
eine besondere Ait von Beieinander, was wir räumliche Anordnung
bzw. Ausdehnung nennen. Der Raum ist die Form der Sinneswahr-
nchmungen. Nennen wir das unmittelbar Gegebene anschaulich, weil
man es nur erleben, gewissermaßen schauen kann, so sind Raum
und Zeit Formen unserer Anschauung.
Analysieren wir eine Wahrnehmung, etwa Sinneswahrnehmung, so
erkennen wir, daß dieselbe komplexer Natur ist. Auch der Raum,
so wie wir ihn wahrnehmen, der Wahrnehmungsraum, läßt sich analy-
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