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208 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1924.)
wesentlich von dem in der Zeit stattgefundenen Erlebnis ab. Die
Beurteilung der Raumgrößen hängt ab von ihrer Entfernung, Lage
usw. Wer die Fehler beim Schätzen von Raumgrößen kennt, wird
dieselben mit in Rechnung ziehen und so teilweise vermeiden können.
Allerdings liegt dann keine bloße Anschauung mehr vor.
Um der Unsicherheit unserer Größenschätzung zu entgehen, haben
wir uns Maße hergestellt. Bleiben wir zunächst bei den Raumgrößen
und greifen etwa das Längenmaß heraus. Es werden alle
Längen mit diesem Längenmaß verglichen, wobei natürlich stillschweigend
vorausgesetzt wird, daß das Maß seine Größe gar nicht
oder wenigstens nicht wesentlich ändert, d. h. die verschiedenen
Längenwahrnehmungen, die wir haben, werden nicht absolut beurteilt,
sondern relativ zu einer bestimmten Längenwahrnehmung, die als
konstant oder nahezu konstant angenommen wird. Komplizierter
liegen die Verhältnisse bei der Zeitmessung. Während bei den Raumgrößen
Wahrnehmungen derselben Art miteinander verglichen werden,
ist das bei der Zeit nicht mehr möglich. Die Zeiten weiden bekanntlich
durch Bewegungen gemessen, von denen man annimmt, daß
sie immer in gleichen Zeiten verlaufen. Außerdem werden — für
gewöhnlich — nicht die ganzen Bewegungen, sondern nur bestimmte
Phasen derselben beobachtet, aus denen man einen Rückschluß auf
die abgelaufene Zeit zieht. Man denke an die astronomische Zeitbestimmung
oder das Ablesen einer Uhr. Es liegt also iiier keine
bloße Anschauung vor wie beim Messen von Raumgrößen, jedoch
Relativität wie bei der Messung von Raumgrößen, da die verschiedenen
Zeiten mit der Zeit verglichen werden, die ein bestimmter
Bewegungsvorgang beansprucht.
Es ist interessant zu beobachten, wie unsicher wir in der Beurteilung
von Zeit- und Raumgrößen sind und wie wir bei den Messungen versuchen
, uns selbst mehr oder weniger auszuschalten und dabei doch
wieder eine Menge Unsicherheiten in Kauf nehmen müssen.
Unsere Betrachtungen waren empirisch psychologisch, mit erkenntnistheoretischem
Einschlag, denn wir gingen immer von Tatbeständen
aus. Dabei fanden wir, daß jedenfalls Raum und Zeit keine Begriffe
sind, da sie ja keiner Definition fähig sind. Wir nannten
Raum und Zeit Formen unserer Anschauung, da alle Wahrnehmungen
räumlich und zeitlich erlebt, gewissermaßen geschaut werden. Damit
haben wir natürlich noch nicht dasselbe gesagt, * was Kant meint,
wenn er behauptet: Raum und Zeit sind die (reinen) Formen unserer
(sinnlichen) Anschauung.
II. Alle Raumerkenntnis stammt genetisch vom Wahrnehmungsraum
, wenn sie auch logisch a priori sein kann, wie das bei der mathematischen
der Fall ist. Aehnliches gilt von der Zeit. Wir bleiben
zunächst beim Raum. Der Wahrnehmungsraum, dem man, so wie er
erlebt wird, Realität zuschrieb, wurde untersucht. Man fand Gesetzmäßigkeiten
, die aber infolge der Unzulänglichkeit unserer Sinnesorgane
nicht voll zum Ausdruck kamen. Auf höherer Stufe hatte
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