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Carl: Betrachtungen über das Raum-Zeit-Problem. 209
man das Bedürfnis, die erkannte, besser geahnte, intuitiv geschaute
Gesetzmäßigkeit einwandfrei nachzuweisen. Das ist aber nur auf
logische Weise möglich. Selbst eine Nachprüfung der logisch gefundenen
Gesetzmäßigkeit im Walirnehmungsraum ist nicht exakt
möglich. Erstens sind mathematische Figuren im Wahrnehmungsraum
unmöglich. Wenn sie aber möglich wären, könnten Differenzen,
die unter der Empfindungsschwelle liegen, nicht nachgewiesen werden.
Daher gilt in der Mathematik der Versuch schon längst nichts mehr.
Der logische Beweis ist, wie in jedem anderen Gebiet der Mathematik,
so auch in der Geometrie, der einzig zulässige Prüfstein. Um eine
rein logische Wissenschaft zu sein, muß sich die Geometrie von allem
befreien, was als evident aus der Anschauung stammt. Sie muß
vielmehr all das, was zum Aufbau eines geometrischen Systems notwendig
ist, als Axiome zusammenstellen, aus denen dann auf rein
logischem Wege das ganze System aufgebaut werden muß. Bei der
Zusammenstellung der Axiome ist darauf zu achten, daß alle notwendigen
Axiome vertreten sind, daß aber auch keine überflüssigen
Axiome dabei sind, d. h. solche, die Folgen anderer schon vorhandener
Axiome sind.
Je nach Wahl der Axiomgruppen gelangt man zu ganz verschiedenen
Geometrien, deren Anzahl unendlich ist. Ob die erhaltenen
Geometrien anschaulich sind oder nicht, ist für den Mathematiker
durchaus irrelevant.
Die landläufige Geometrie, deren ersten Anfangsgründe den meisten
bekannt sind, ist die sogenannte euklidische. Nimmt man in einer
Ebene eine Gerade g und einen Punkt P an, so kann man dutch!
diesen Punkt P zu der Geraden g nur eine, aber auch immer eine
Parallele ziehen. Lange Zeit hat man diesen Satz zu beweisen versucht
, d. h. aus den Axiomen der bis dahin allein bekannten euklidischen
Geometrie herzuleiten. Das war aber unmöglich. Der Satz
ist eben selbst ein Axiom, also keine logische Folge der übrigen
Axiome. Behält man alle übrigen Axiome bei, läßt aber das erwähnte
Parallelenaxiom oder Parallelenpostulat, wie man auch sagt,
fallen, so ergeben sich zwei völlig einwandfreie geometrische Systeme,
die elliptische und hyperbolische Geometrie. Bei der ersteren kann
man in der Ebene zur Geraden g durch einen Punkt P gar keine
Parallele ziehen, bei der letzteren kann man durch den Punkt P
zur Geraden g unendlich viel Geraden legen, welche die Gerade g nicht
schneiden. Zwei dieser unendlich vielen Geraden haben besondere
Aehnlichkeit mit den Parallelen der euklidischen Geometrie, so daß
man sagt, in der hyperbolischen Geometrie kann man durch den
Punkt P zur Geraden g zwei Parallelen legen. Diese beiden nicht
euklidischen Geometrien sind an sich unanschaulich, auch wenn sie
sich durch Abbildungen veranschaulichen lassen. Die Ansicht der
Mathematiker über die Anschaulichkeit der nichteuklidischen Geometrien
ist eine geteilte. Ich stimme dem Münchener Mathematiker
Döhlemann zu, wenn er sagt, daß Analogieschlüsse und Abbil-
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