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Carl: Betrachtungen über das Raum-Zeit-Problem.
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nik usw. beziehen wir unsere geometrischen Kenntnisse ohne weiteres
auf den Wahrnehmungsraum. Ja, wir tun gerade so, als wenn der
Wahrnehmungsraum der mathematische Raum wäre, wobei dann
stillschweigend der euklidische Raum verwendet wird. Weder bei den
Philosophen noch bei den Mathematikern finden wir in bezug auf diese
Frage eine einheitliche Meinung. Das hängt vielleicht damit zusammen
, daß diese Frage rein logisch wohl überhaupt nicht zu lösen ist.
Anderseits kann ich mich der Ansicht nicht erwehren, als wenn bei
dieser Frage zwischen dem psychologischen, mathematischen und physikalischen
Raum (evtl. auch noch irgendeinem metaphysischen Raum)
nicht immer scharf genug getrennt würde. Sehr vorsichtig muß man
dabei auch im Gebrauch von Worten, wie Existenz, real usw. sein;
denn es kommt eben sehr wesentlich darauf an, was man unter
diesen Ausdrücken versteht. Welcher Wirrwarr ist z. B. beim Begriff
der Willensfreiheit entstanden, weil einerseits „Wille", anderseits
„Freiheit" in ganz verschiedenem Sinne gebraucht worden sind.
Kants Stellung zu unserer Frage ist etwa die folgende: Raum und
Zeit sind die der Sinnlichkeit zugrunde liegenden apriorischen Erkenntniselemente
, als solche die sinnliche Anschauung erst ermög-
Höhend, ja die Gegenstände der Erfahrung geradezu ihrer Form nach
erst erzeugend. Raum und Zeit sind Formen der Erscheinung, d.h.
sie machen, „daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen
geordnet werden kann". Nur was raum-zeitlich auffaßbar
ist, kann Gegenstand der Erfahrung, ja auch der bloßen Wahrnehmung
werden. Und was wahrgenommen wird, muß sich von uns
gewissermaßen das „raum-zeitliche Kleid überziehen lassen" (Busse).
Die euklidische Geometrie ist nun nach Kant, so kann man etwa mit
Weyl sagen, die apriorische Erkenntnis, die den Gehalt der reinen
Raumanschauung in adäquaten Urteilen wiedergibt. Dabei ist bei Kant
reine Anschauung soviel wie reine Form der Sinnlichkeit, und eine
Form heißt rein, wenn sie ohne Empfindung angetroffen wird. Von
diesem Standpunkt aus ist es klar, daß im Wahrnehmungs- oder
Erscheinungsraum die euklidische Geometrie güt, auch wenn sie infolge
der Mangelhaftigkeit unserer Sinnesorgane usw. durch Versuche nicht
verifiziert werden kann. Kants Anschauungen über die euklidische
Geometrie insbesondere und die Geometrie im allgemeinen ist nicht
unangefochten geblieben. Ich verweise auf die interessanten Ausführungen
J. Wellsteins in den Grundlagen der Geometrie. (Weber
und Wellstein, Enzykl. der Elementar-Math., 2. Band, 1. Buch),
wenn ich auch Wellstein nicht in allen Punkten beipflichte. Da die
mathematische Geometrie eine rein logische Wissenschaft ist, „weisen
wir die Uebergriffe der Anschauung in den Machtbereich des reinen
Denkens entschieden zurück, lassen sie aber als anregende Stütze und
Begleiterin unseres Denkens um so unbedenklicher herrschen". (W e 11-
81 e i n.) Was hier über Anschauung gesagt ist, bezieht sich natürlich
auch auf die reine Anschauung hinsichtlich der Zurückweisung, während
als Stütze gerade die sinnliche Anschauung wertvoll ist. Hin«*
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