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212 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1924.)
sichtlich Kants Stellung zum Raumproblem ist zu sagen, wie aus
unseren Andeutungen schon hervorgeht, daß Kant eigentlich nur den
Wahrnehmungsraum (Anschauungs-, Erscheinungs-, psychologischen
Raum) und die ihm zugrunde liegenden apriorischen Erkenntnis-
eJemente im Auge hatte. Ob Kants Ansicht, daß die reine Raumanschauung
— kurz gesagt — euklidisch ist, richtig oder falsch ist,
wird sich rein logisch wohl überhaupt nicht entscheiden lassen, während
sie in gewisser Beziehung empirisch psychologisch nach meiner
Ansicht schon in seinem Sinne entschieden ist. Im Unterricht von
kleineren und größeren Schülern, ja auch von Erwachsenen, h%be ich
immer und immer wieder gefunden, daß gewisse Dinge, die mathematisch
-wissenschaftlich durchaus nicht selbstverständlich sind, doch
gewissermaßen „im Gemüte a priori bereitliegen," wenn hier in etwas
anderem Sinne das Kantsche Wort gebraucht werden darf. Auf die
Frage, wie lang eine Gerade ist, wird fast immer geantwortet: unend-
lieh, obwohl die Schüler aus Erfahrung nur beiderseits begrenzte
Geraden, sogenannte Strecken, kennen. Die Frage, wieviel Parallelen
man durch einen Punkt P zu einer Geraden g an der Tafel ziehen
kann, führt eigentlich immer zur Antwort: Eine. Suggestivfragen
und Kryptomnesie können vielleicht manchmal, aber sicher nicht
immer zur Erklärung der Antwort herangezogen werden. Ich stimme
den Philosophen zu, die E. Picard zitiert und denen er selbst zuzustimmen
scheint, wenn er sagt: „. . . aber ich weiß, daß verschiedene
Philosophen gerade darin eine Bestätigung der Kaatschen Lehre
sehen, nach der uns unter allen logisch möglichen Raumformen eine
einzige Anschauungsform auferlegt ist, nicht durch die Vernunft, sondern
durch unsere Natur als empfindende Wesen." (Bonola und
Liebmann, Die nichteuklidische Geometrie.)
Bei Kant spielt die Zeit für die Arithmetik die entsprechende
Rolle, wie der Raum für die Geometrie. Diese Ansicht, der eine
gewisse Berechtigung nicht abzusprechen ist, faßt den Zahlbegriff
nicht in seiner Reinheit und Allgemeinheit. Die Erzeugung des Zahlbegriffs
hat die neuere Mathematik auf eine noch allgemeinere Tätigkeit
unseres Denkens zurückgeführt, auf die Verknüpfung von Dingen
untereinander. Die Mengenlehre faßt die Zahl als einen besonderen
Fall eines allgemeineren Begriffs, der Menge. Kant redet auch .einfach
von der Zeit und scheidet nicht zwischen mathematischer, psychologischer
usw. Zeit.
Zur rein mathematischen Zeit machen wir folgende Bemerkungen.
Man kann die Bewegung ganz unabhängig von der Physik als unendliche
stetige Folge von kongruenten Figuren definieren. Dabei erscheint
die Zeit schließlich als eine veränderliche Größe, deren Variabilitätsbereich
von einer Dimension ist. Die mathematische Zeit kann
zu- und abnehmen, während die psychologische Zeit nur zunimmt.
Beide haben die Eigenschaft, eindimensional zu sein. Im übrigen
hat die mathematische Zeit mit der psychologischen nichts mehr zu
tun. Genetisch stammt natürlich die mathematische Zeit von der
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