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Carl: Betrachtungen über das Raum-Zeit-Probkm
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Bewegungen relativen Charakter. Physikalisch liegt die Sache anders.
Bei der Rotation eines Körpers treten z. B. Zentrifugalkräfte auf, die
bei einem ruhenden Körper nicht vorhanden sind. In seiner „allgemeinen
Relativitätstheorie*4 gelang es nun Einstein, alle Bewegungen
auch vom physikalischen Standpunkt aus zu relativieren,
was erkenntnistheoretisch überaus befriedigend ist. Dieser Erfolg
konnte aber nur mit dem Opfer erkauft werden, daß auch die „physikalische
Gegenständlichkeit" der Union von Raum und Zeit preisgegeben
wurde. Nur die Einheit von Raum, Zeit und Dingen besitzt
Existenz im physikalischen Sinne. Das Raum-Zeit-Kontinuum, ein
vierdimensionaler Raum im mathematischen Sinne, hat nun nicht mehr
euklidische Struktur. Es hat nicht einmal überall denselben Bau.
Das Raum-Kontinuum ist dabei quasi-spärisch, d. h. im großen ganzen
kann es als das dreidimensionale Analogen der Kugelfläche angesehen
werden, weicht aber im einzelnen davon ab, wie etwa eine
Tischplatte im ganzen als eben angesehen werden kann, im einzelnen
aber doch von der Ebene abweicht. Raum und Zeit bilden ein vier-
dimensionales Schema, in welches die physikalischen Objekte und Prozesse
eingeordnet werden. Das Schema kann so gewählt werden, daß
die Einordnung möglichst übersichtlich und einfach wird. Es erübrigt
sich wohl, noch besonders darauf hinzuweisen, daß die
vierte Dimension in der Physik nichts Metaphyisisches an sich hat.
Die Welt — Raum-Zeit-Kontinuum — ist ein vierdimensionaler
Raum, dem eine bestimmte Maßbestimmung aufgeprägt ist. Die
physikalische Form von Raum und Zeit hat nichts zu tun mit der
psychologischen Form. Die Einheit von Raum und Zeit ist in der
Physik ein mathematischer Raum, der so gewählt ist, daß er sich
zur Beschreibung der physikalischen Prozesse besonders gut eignet.
Auch wer nicht auf dem Boden der Ein stein sehen Relativitätstheorie
steht, muß zugeben, daß Raum und Zeit in der Physik etwas
anderes sind als in der Psychologie. In der Physik handelt es sich
um das Meßbare, in der Psychologie um das Erlebte, denn die physikalische
Zeit wäre ja nichts anderes als — kurz gesagt — die Uhrzeigerstellung
, während über den Raum schon vor der Begründung
der Relativitätstheorie Poincare sagte, daß der Raum (der Physik)
gestaltlos sei und Riemann und Helmholtz sich ähnlich ausgesprochen
haben. Trotz seines genialen und bewunderungswürdigen
Scharfblicks hat Kant das Raum-Zeit-Problem nicht vollständig gemeistert
, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, daß er immer
von dem Raum und der Zeit spricht, was ihm aber nicht im geringsten
zum Vorwurf zu machen ist, wenn man die mathematischen
und physikalischen Ansichten seiner Zeit in Rechnung stellt.
Schreibt man mm einmal dem Raum, entgegen dem Standpunkt
der Relativitätstheorie, physikalische Gegenständlichkeit zu, so scheint
mir folgende einfache Betrachtung trotzdem den Unterschied zwischen
physikalischem und psychologischem Raum verständlich zu machen.
Es soll etwa durch ein Experiment festgestellt werden, welche Geo-
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