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246 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1924.)
hätte es doch so nahe gelegen, sich mit der Anschauung zu befassen,
daß es neben der grobstofflichen Welt auch noch feinstofflichere Zustände
gäbe, d i e der substanzielle Träger für die geistigen Funktionen
des Lebendigen sei, und diesen feinstofflichen Schwingungsformen also
jene Funktionen zuzubilligen, die uns im Bereich der grobsinnlichen
Erscheinungen so unverständlich anmuten. Aber auch hier ist wieder
das Richetsche Werk ein Tummelplatz von Widersprüchen, und ich kann
mir vorstellen, daß sie alle stehen geblieben sind als Merksteine einer
Entwicklung im steten Kampfe und Ringen gegen Vorstellungen, die das
alte materialistische Weltbild umwerfen wollen. Auf der einen Seite
rennt er das Vorhandene solcher „verborgenen Schwingungen in einem
Gegenstand" eine „kaum ernst zu nehmende Hypothese" (Seite 140);
aber schon auf Seite 142 meint er, daß es durchaus nicht fehlsinnig
sei, „anzunehmen, daß Gegenstände gewisse Schwingungen aussenden"
und daß „in den Dingen zuweilen etwas wie eine Emanation" existiere
(Seite 145), „irgendeine rätselhafte äußere Schwingung, die auf unseren
Organismus einwirkt" (Seite 169). Ja Seite 173 heißt es: „jene unbekannten
Schwingungen existieren sicherlich" und Seite 212: „es genügt
zu sagen: Schwingungen des menschlichen Denkens anstatt
unbekannter Art". Das wäre so ein Beispiel der inneren Wider-
spruchserfülltheit dieses ehrlichen Ringens um den unbequemen Stoff,
Uebrigens nicht das Denken schwingt, sondern der Träger
des Denkens. Man muß eben den Aether, oder die ganze Fülle der
alldurchdringenden Abstufungen ätherischer, d. h. feinstofflicher Substanzen
als die jeweiligen Träger seelisch-geistiger Funktionen betrachten
. So wie schon der alte Spinoza von der Substanz behauptet,
sie habe mindestens die beiden Attribute der räumlichen Ausgedehntheit
, also des stofflichen Wesens, und des Denkens, d. h. des
psychischen Seins. Und behält man das im Auge, so ist der
Aether nicht mehr ein überstoffliches Etwas, in den sich Gedankenweilen
oder Bilder von Vorgängen telepathisch fortpflanzen, sondern
die jeweilige Aetherart mit ihren feinsioffliehen Schwingungen selbst
ist die Ebene, auf der sich der Vorgang des Hellwissens abspielt. Aber
warum der Widerwille vor einer „kaum ernst" zu nehmenden Theorie,
wenn man (Seite 233) in demselben Werke bekennen muß, „es sei
hinlänglich bewiesen, daß im Augenblick des Todes ab und zu eine
Schwingung entsteht, die irgend etwas in der Welt in Erschütterung
bringt, und die bei gewissen sensiblen Personen die Kenntnis dieses
Todes veranlassen". Immer wieder hat Richet die Beobachtung festgestellt
, wie Materie einschmilzt, sich in Dunst und Nebelwolken auflöst
, oder wie sich aus kaum wahrnehmbarem Wogen feste Gebilde
zusammenballen, die als Hände, kraftvoll handelnde Glieder und intelligent
sprechende Phantome dann vor unseren gesundenen Sinnen
agieren. Wie nahe liegt der Gedanke, hier den Wechsel von Aggregatzuständen
der Materie anzunehmen, die noch über den Zustand der
strahlenden Materie hinaus liegen. Aber das alte Weitbild beherrscht
Richetsches Denken so stark, daß er die Widersprüche gar nicht zu
merken scheint, in die er sich verwickelt, wenn er Seite 257 davon
spricht, daß „zweifellos irgendeine (hier von einer Uhr ausgehende)
Schwingung dem Medium die Vorstellung verschafft habe, von der sie
gesprochen", während er wenige Seiten zuvor diese Anschauung als
überhaupt nicht „ernst zu nehmend" von sich abwies.
Ich habe hier an einem Beispiel zeigen wollen, was mich dazu
berechtigte, an der Fülle der inneren Widersprüche des begleitenden
Textes das Ringen dieses ehrlichen Forschers mit einer Weltanschauung
zu kennzeichnen, die er unaufhaltbar heraufkommen sah; wie er aber
mit beiden Beinen in einer materialistischen und rationalistischen Vergangenheit
wurzelnd nicht mehr mitmachen kann. Wer die fast er-
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