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256 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1924.)
Aber auch ihr Geruch- und Geschmacksinn sind abnorm gesteigert
Während der noch unentwickelten älteren Prophetie in der Ekstase
Aufschlüsse über einzelne Ereignisse der nächsten Zukunft zuteil werden
, ist der klassischen Prophetie die fromme Vollmacht der religiös-
sittlichen Persönlichkeit eigen. Das Ekstatische tritt mehr in den Hintergrund
, das Naturhaft-Sehwärmerische ist überwunden. Und doch
sind auch sie nicht ohne heiße, überwallende Leidenschaft, die für
ihren Gott erglüht in flammender Begeisterung, aber auch für ihn
über das Volk zürnt und ihm Unheil ob seines Ungehorsams verkündigt
. Nicht reflexierend, sondern intuitiv erglühen und freuen sichl
ihre Gedanken in Tiefen, Weiten und Höhen, die kein Denken oder
Nachdenken erreicht. Sie wissen sich des Gottes und seines Geheimnisses
, d. h. seiner tiefsten und letzten llatschlüsse voll. Die meisten
haben „Berufungs -Visionen erlebt. So besonders Jesaia, der sie im
sechsten Kapitel plastisch und drastisch schildert. Scharf muß hier
wie auch sonst zwischen dem sinnbildlich-symbolischen Zeichen, dem
ekstatischen Erlebnis und dem okkulten Phänomen unterschieden werden
. Dieses ist stets eine wirkliche Wesenheit oder ein die gewöhnlich*
Sinneserfahrung überschreitender Vorgang. Als erstere werden von den
Propheten die in der Welt werbenden Kräfte in personeller Figuration
geschaut. Sie sehen Engel am Werk. Nicht daß diese vollkommene oder
verklärte Wesen wären, ist charakteristisch für sie, sondern daß sie geistige
Mächte außerhalb und abgesehen vom Menschengeiste sind. Nichts
spricht dagegen daß geistige Mächte in der Welt wirksam sind, die an
Ort und Zeit nicht gebunden auf Menschen einwirken. Wie alles Denken
klarei und kräftiger ist, je mehr es vo»n der tragen Masse des
Leines befreit ist, und wie es Gedanken gibt, die wir nicht ausdenkent
sondern die uns „einfallen", und wie endlich alles Organische ein Geistiges
ausdrückt, das in ihm zum Vorschein und Durchbruch kommt,
so liegt es durchaus in dieser Linie des wirksam beobachteten Geistes,
daß er in Geister zerteilt auftritt, die in eigener Sphäre ihres bestimmten
Zweckes walten. Wir können hier nicht auf die feinen Unterschiede
, die der israelitisch-semitische Geist zwischen „Keruben" — eine
Art „Genien" —. Dämonen und Engeln macht, eingehen. Jedenfalls sehen
die Propheten diese Mächte am Werk. Und ihr Zeugnis ist ein übereinstimmendes
. Freilich müssen wir wieder scharf unterscheiden zwischen
bloßen „Traumgesichten", die z. B. bei Sacharja ganz ins Phantastische
abschweifen, und den eigentlichen Visionen, die am hellen
Tage, also im Wachbewußtsein, über sie kommen. Ja, es ist ihnen zumute
, als wenn sie aus dem Schlafe geweckt werden (Sach. 4, i). Der
Seher schaut „zwischen den Myrthen im Talgrund" Wesen, die Gott
über die Erde gesandt und die ihm Kunde bringen davon, wie es auf
Erden aussieht. Zumeist werden die Visionen im Heiligtum Gottes
erlebt. Wie in alten Zeiten der Tempelschlaf (vgl. i. Sam. 3) für
Samuel die Offenbarung Gottes ermöglichte — es wurde ihm eine
„Raunung" zuteil, die eine Weissagung enthielt — so ist es ein charakteristisches
Zeichen des sich sittlich-religiös vertiefenden Geistes der
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