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Koehler: Okkulte Phänomene im Alten und Neuen Testament. 257
klassischen Propheten, daß sie nicht so auf ijxre Visionen als auf die
Auditionen Wert legen, d. h. auf das ihnen geheimnisvoll Zugeraunte.
So ist dem Jesaia nicht Johwehs Erscheinung auf seinen Keruben die
Hauptsache, sondern der Berufungsauftrag, der ihm zuteil wird. Nicht
die wundersamen Erlebnisse, unter denen ihnen die „Offenbarungen",
wurden, sind den großen Propheten die Hauptsache — so pietätvoll
genau sie dieselben auch beschreiben — sondern die ihnen offenbarten
Gedanken und Ratschlüsse Gottes. Der religiöse Moment liegt also auch
hier nichl in der äußeren Form und ijn Erlebnis, sondern in der
inneren Bereitstellung des Gott gehorsamenen Geistes. Der religiös!
bedeutsame Glaube ist Beugung unter Gottes Willen, ein Sichbereit-
halfen zum Ausführen seiner Ratschlüsse, die dem natürlichen Begehren
oft so zuwiderlaufende sind.
Bisweilen geschiehts, daß der Prophet zunächst etwas schattenhaft
undeutlich vor sich sieht, und dann dem Aufschluß Begehrenden eine
Stimme zuraunt, was die Erscheinung darstellt (z. B. im Korb mit
Herbstobstj Arnos 8, i ff.). Eine weitere Stimme macht ihm dann klar,
was das deutlich gewordene Gesicht zu bedeuten habe: „Herbst ist gekommen
über Israel!" Iiier ist Ideoplastisches und Geoffenbartes ineinander
gewoben. Den sich um die Zukunft seines Volkes sorgenden
Patrioten verdichten sich die Gedanken zu plastisch werdenden Bildern,
und was aus dem Unterbewußtsein in undeutlichen Umrissen ins Tagbewußtsein
steigt, erfüllt nun seine Seele als Offenbarung des Gottes,
um den er eifert. Es ist dem Propheten zumute, als ob Gott Schleier
von den Dingen und Decken von seinen Sinnen nehme. Aehnlieft
kann Jesaia die Stimme eines himmlischen Aufsehers vernehmen, der
die ihm untergebenen Geister zum Wegbau in der Wüste aufruft, weit
über Berg und Tal, eine ebene Bahn für den Einzug begehrenden Gott
herzurichten (Jes. 4o, 3 ff.). Ja, auch die Wüste hat ihre Geister —
eine Art dämonischer Elementarmächte: ihre Stimmen vernimmt nur,
wf»r mit den Geheimnissen der Wüste vertraut ist — wehe, wer ihnen
unbewehrt in die Hände fällt! Sie haben Macht, die Menschen zu
plagen und zu versuchen; und ihr Meister wird nur, wer ihnen ein
festes Herz und einen reinen Willen entgegenzusetzen vermag. Ja, „es
geistert" nichl bloß in der Wüste, nein, ein geschultes und geschärftes
Öhr hört auch das Klagen und Weinen der in der Wüste Erschlagenen
und Gefallenen.
So vernimmt Jeremia (3i, i5) in Rama die wehklagende Stimme
der Stammutter Rahel, die das traurige Ende ihrer Kinder aus dem
Grabe hervorlockt. Aber derselbe Prophet hört auch die herrliche
Gottesstimme, die Trost und Verheißung spendet (3i, 16 f.). Beides ist
weder Poesie noch Stimmung, sondern wirklich gehörte Weisung und
Stimme, ein Rufen aus Tiefen und Nächten, ein Raunen von oben und
innen. — Aber auch Stimmen der Zukunft dringen an des Propheten
geistgeschärftes Ohr. Die Posaune, die einst die Zerstörung kündet,
gellt ihm schon jetzt mit allem Lärmruf des männermordenden Krieges
in die Ohren (Jerem. 4, 19 f.), er vernimmt das Kriegsgetöse des
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