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258 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft (April 1924.)
heranziehenden Heeres, das Schnauben der feindlichen Rosse und die
aufschreiende Angst des überwältigten Zions (io, 22, 8, 16, 4, 3i). Und
wieder - vernimmt er aus weitester Ferne in Kanaan die Wehklagen
des gezüchtigten Volkes. Oft sind es ungeheuer laute Töne und gewaltig
grelle Lichter — Ton und Licht in Schwingungseinheit! — die
seine Sinne betäuben. Ein furchtbares Tosen zieht heran, wie das Tosen
gewaltiger Meere (Jes. 17, 12 f.) — es ist das brausende Gewühl daher-
stürmender Völkermassen! Und Ezechiel (1, 4 ff.) sieht funkelnden Erz-
glänz, blinkende Feuerblitze, einlichtende Fackeln, Leuchträder, so als
ob ein Bad innerhalb des anderen wäre, deren Felgen mit Augen besetzt
sind und die sich in die Höh** heben, wenn d?r Geist der Tiere
sie erfüllt. Aber über alles hellstrahlend schaut er im Saphirglanz das
Throngebilde Gottes und auf dem Thron wie ein Mensch anzuschauen
— die Erscheinung der Herrlichkeit Jehovas. Diese Schauungen mögen
ihren sinnlich-figürlichen Anlaß an den Keruben der Bundeslade im
Tempel gehabt haben (vgl. auch Jes. 6, 1 ff.), aber daß der Prophet
das Donnerrollen der Räder des Götterwagens hört und einen auf dem
sausenden Thron wie in Menschengestalt Sitzenden schaut — das alles
sind keine „poetischen Ergüsse" eines gottrunkenen Derwisches; es sind
wirkliche Schauungen von Propheten, deren Sinne — nicht durch
Weingenuß oder sonstige Stimulation, die untauglich machen — geschärft
genug sind, um Wesenheiten und Wirklichkeiten einer Ueberwelt
zu erleben, die in diese Erden weit hineinragt und ihrem Geschehen dle|
wahre Deutung undWeihe geben. Gerade dieses aber ist das für die
Eigenart prophetischen Wesens Entscheidende. Nicht schon, daß sie
schauen dürfen, was den blöden Augen der anderen verschlossen bleibt,
macht sie zu dem, was sie sind; erst die Deutekraft, mit der sie das
Erlebt«* in den Dienst ihres Gottes und Volkes stellen, gibt ihrem Wirken
die Weihe, ihren Worten die Macht der Wahrheit. Sie stehen
den grausigen Ereignissen, die sie herannahen fühlen bis in die Fingerspitzen
und Hüften (Jesaia 21, 3), nicht objektiv teilnahmlos oder
wissenschaftlich beobachtend gegenüber — nein, an ihnen selbst, an
ihrem bis in die letzten Tiefen erschütterten Seelenkörper tobt sich
das Unwetter aus, so daß sie von Wehen ergriffen werden wie eine Gebäreriii
; geheimnisvolle Stimmen dringen auf sie ein; wie ein nächt-
Jicher Spuk, gegen den sie sich vergebens wehren, ängstigt es sie in
allen Sinnen. Und nun mitten im Wirrsal und Toben das Entschei-
dende: „Stelle den Späher auf, was er schaut, soll er künden" - so
liats der Herr geboten (Jes. 21,6). Die Ausleger, die mit okkulten
Phänomenen des Seelenlebens nicht vertraut sind, raten hier herum
und geraten in Verlegenheit. Erst Duhm ist es gelungen, den „Späher
" auf das andere Ich des Propheten sinnvoll zu beziehen. Mit seinem
höheren Selbst, das sich vom niederen Ich scheidet, vermag er das den
anderen Ungewohnte zu erspähen. Man braucht nicht mit Gunkel an
die hypnotischen Zustände zu erinnern. Es gibt auch Schauungen des
höheren Selbst im Wachzustand, die mit posthypnotischen Suggestionen
nichts zu tun haben. Die Verlegenheit auch sonst tüchtiger Ausleger
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