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260 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 4. Heft (April 1924.)
sieht, das ich geschaut hatte, hob sich hinweg von mir. Sodann verkündigte
ich den Verbannten alle Worte Jehovahs, die er mich hatte
schauen lassen." Zunächst ist hier, wie die Ausleger wollen, von eitiem
Traum nicht die Rede. Der Prophet befindet sich vielmehr in einem
kataleptischen Zustand und in diesem erlebt er eine Elevation und eine
Lokomotion. Sein Fluidalkörper tritt aus seinem Leibe; er fühlt sich
von einem „Wind" getragen (so und nicht „Geist" ist zu übersetzen,
ruach bedeutet beides) — Windesbrausen wird auch beim Pfingsl-
ereignis erlebt (Apost. 2, 2), ebenso wie Erderschütterungen (Apost.
l\, 3j). Wa? der Prophet schaut, sind Realitäten, keine Einbildungen
seiner subjektiven Phantasie. Er schreit vor Schi eck auf über das,
was er erlebt: „Wiche, Herr Jchovah, du vernichtest den Rest Israels"
(Ezecb. ii, i3). Aehnlich klagt Jeremia (20, 8): „Meine Brust, meine
Brust! Mir ist so wehl Meines Herzens Kammern! Meine Seele stöhnt,
ich finde kein« Ruhe! Denn Drometenschall muß ich hören undk
Schlachtgetöse." Wie bezeichnend ist das alles! Hier ist nichts subjektiv
aus der Phantasie Hervorgebrachtes, hier ist alles gegen den
eigenen Willen und das subjektive Empfinden schmerzvoll erlebt von
einer objektiv einstürmenden Macht. Nicht im Taumel wird das Furchtbare
erlebt; nein, hier wird etwas erlebt und verkündigt, was ihnenj
den Gott sich zum Besten ihres Volkes zur Verfügung Stellenden, als
heilige Denknotwendigkeit eingegeben wird, auf daß das abtrünnige
Volk sich bekehre und lebe. Und mag auch die niedere Natur
in ihnen, das fleischliche Ich zittern und bangen, ihr höheres Selbst
erlangt in dei ekstatischen Begeisterung eine Sicherheit und Seligkeit,
die sie Verfolgung, Kerker und Tod überwinden läßt und im Kraftgefühl
, das Gottes Botschaft in ihnen auslöst, jauchzen macht: „Fanden
sich Wortyc von dir, ich verschlang sie, dein Wort war meine
Wonne, meines Herzens Lust; denn du hast Besitz von mir, Jehovah»
genommen" (Jerem. i5, 16). ,,Ich aber, ich bin voller Kraft von
Jehovahs Geist, von Recht und Heldentum, um Jakob seinen Frevel
zu künden und Israel seine Sünde" (Mich. 3, 8). Es ist zu wenig
und irreführend gesagt, wenn Gunkel meint, von einem ,.elektrisch
geladenen Innern der Propheten" zu reden und von „verdächtigen
Aehnlithkeiten mit Geisteskrankheiten und nervösen Störungen, ähnlich
denen von Wahnsinnigen." Darin freilich ist Gunkel zuzustimmen,
daß es seltsame seelische Vorgänge bei den Propheten gibt, die von
tiefster religiöser Ergriffenheit zeugen und von mächtigster Kraft und'
und höchster Originalität sind. Aber diese seltsamen seelischen Vorgänge
sind eben etwas, das die parapsychische Forschung jetzt zu erhellen
beginnt und dem sie den Charakter des bloß Krankha ft-Wahnsinnigen
zu nehmen sich bemüht. Tiefen des Seelischen brachen einst
auf bei den Propheten Israels, in die keine Reflexion reicht und die
ein bloß vernünftiges Denken übersteigen. Und sollte das* was einst
war, nicht auch heute möglich sein? Ja, sollte nicht der tiefer forschende
Geist heute viel deutlicher in Erfahrung bringen, was wahrhaft
göttlich und was allgemein menschlich, was seelisch und überseelisch,
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