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374 Psvchische Studien. LI. Jahrgang. 6. Heft (Juni 1924.)
Interesse. Ohne Zweifel kann auch hierbei zunächst an eine Erklärung
durch telepathische Uebertragung gedacht werden; man kann annehmen,
daß der Sterbende seine Halluzination auf d:e Anwesenden übertragen
hat. Diese Annahme ist aber kaum berechtigt in Fällen, in welchen
das Phantom zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gesehen
wird. Die spiritistische Hvpothese ist wohl näherliegend, besonders
dann, wenn die Anwesenden die Erscheinung sehen, während der
Sterbende bereits in Ohnmacht liegt oder wenn der Sterbende ein
Kind ist. Solche Fälle werden von dem Autor in größerer Anzahl
berichtet, Fälle, welche so gut beobachtet und beglaubigt sind daß
es sehr künstlicher und willkürlicher Suppositionen bedarf, um der
spiritistischen Hypothese zu entgehen, um so mehr, als in einem
Falle alle Anzeichen für die Objektivität des Phantomes gegeben
sind. —
Eine vierte Klasse der Sammlung Bozzanos enthält jene Erscheinungen
am Sterbebett, welche mit mediumistisch erhaltenen
Ankündigungen oder Bestätigungen zusammenfallen. Ein kurzes Beispiel
soll diese vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wichtige Klasse
illustrieren:
Prof. Hyslop berichtet folgende Erzählung einer Dame seiner
Bekanntschaft: „Vier oder fünf Wochen vor dem Tode meines Sohnes
war ich bei meiner Freundin, Mme. S____, welche medial ist. Man
erhielt eine Botschaft ihres „Spirit-Führers", ein kleines Mädchen, das
sich mit dem Namen Bright Eyes zeichnete. Der Spirit versprach, sich
am Bette meines Sohnes einzufinden, der schwer an Krebs erkrankt war.
Nun, in der Nacht vor seinem Tode klagte mein Sohn, daß um sein
Bett ein kleines Mädchen sich aufhalte, und er fragt, wer es sei Der
Kranke wußte nichts von der bei Mme. S____erhaltenen Botschaft!"
Prof. Hyslop bemerkt hierzu: „Die intime Freundschaft zw'schen
Mme. S----" und der Mutter des Verstorbenen läßt die Möglichkeit
annehmen, daß dem Sohne vor seinem Tode unbewußt Anspielungen
oder Suggestionen gemacht worden sind; oder daß im Momente des
mediu'mistisehen Experiments, Aeußerungen gefallen sind, welche dem
Vorfall die Bedeutung nehmen, welche er augenscheinlich ze;gt."
Man wird also auch in den Fällen dieser Klasse die telepathische
Hypothese nicht ohne weiteres ablehnen können. Die Möglichke t, daß
sich zwischen dem Unterbewußtsein des Mediums und jenem des Kranken
ein telepathischer Rapport einstellt, ist nicht abzuleugnen. Wie dem
aber auch sei, die Fälle sind interessant und wohl wert, in wissenschaftlichen
Experimenten verfolgt zu werden. Dafür spricht besonders
der Umstand, daß unter den in dieser Klasse berichteten Beispielen
, sich Fälle finden, in welchen die Objektivität der Phantome
kaum anzuzweifeln ist!
I Ernesto Bozzano bemerkt treffend: „Man sieht, daß alle
diese Geschehnisse, selbst die sensationellsten, mehr oder weniger
durch die telepathische Hypothese in ihren verschiedenen Modalitäten
erklärt werden können. Dies muß wohl bedacht werden, ehe man sich
auf abenteuerliche Konjekturen einläßt. Aber es ist ebenso wahr, daß
man in jener Hypothese so ausgedehnte und wunderbare Kräfte voraussetzen
muß, claß man sich auf der Schwelle des Transzendentalen
befindet, was man um jeden Preis vermeiden wollte."
In die fünfte Klasse nimmt der Autor jene Fälle, in welchen
die Familienangehörigen des Sterbenden allein die Phantome Verstorbener
sehen. Diese Fälle sind sehr selten und auch sie können
durch die telepathische Hypothese erklärt werden — ausgenommen
in einigen Spezialfällen.
Der Autor berichtet solche Spezialfälle. So ist in einem Beispiel
der Sterbende ein Kind von vier Monaten, ein Umstand, der
den Gedanken an eine Autosuggestion absolut ausschließt oder gar
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