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534 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 9. Heft. (September 1924.)
gonenstreben. Im Gegenteil — der Rhythmus des geistigen Wachstums
drängt nun zur Fruchtbildung, deren Träger sich des Tra-
diticnszusammenhanges zumeist gar nicht bewußt sind. Seine Kontinuität
ist innerlicher Art und zeugt in immer neuen Formen von
dem gesetzmäßigen Gange der Entwicklung.
Dacques Versuch ist darum so bemerkenswert, weil er gänzlich
naiv aus seiner eigenen Fachwissenschaft heraus — Dacque ist u. a.
Verfasser eines gewichtigen Handbuchs der „vergleichenden biologischen
Formenkunde der fossilen niederen Tiere", Berlin 1921 —
durch seine paläontologischen Prämissen bis zu Fragen fortgetrieben
wurde, die nur philosophisch beantwortbar sind und deren Antwort er,
terminologisch unbehilflich, doch mit instinktsicherer Ahnung treffend
vorwegnimmt. Sein Gedankengang, der manches Hypothetische mit
aufnimmt, wie z. B. Hörbigers Glazialkosmogonie, freilich kritisch
gefaßt, bleibt stets der reine Ausdruck eigenen unmittelbaren Weltempfindens
, das sich zur „lebendigen Einfühlung" in das als Symbol
begriffene Naturbild steigert. So gelangt er zu den gewaltigen Ausblicken
auf ferne Erdepochen und ihrem geahnten Daseinssinn gerade
für die Vorformen des Menschenstammes; so kommt er andererseits
dazu, aus den urältesien mythischen Sagentrümmern noch verklungene
Menschheitserinnerung herauszuhören und naturhistorisch auszudeuten
— ein wohl unbegreiflich erscheinendes Wagnis, das sich aber in dem
metaphysischen Schlußteil des Buches löst in der tiefsinnigen natur-
und religionsphilosophischen Gesamtausdeutung des Natur- und Geistesgehalts
des erscheinenden Daseins. Dacques Spekulationsansätze gehören
zu den bedeutendsten in dieser Art und werden sich trotz Kampf
und Widerspruch von mannigfacher Fruchtbarkeit erweisen. Wie die
morphologischen Gedanken seiner , Typenkreise'4 und des „Zeitcha-
rakters" in Natur- und Geisteswissenschaft Berührung finden werden,
so wird seine metaphysisch und naturhistorisch gleich bedeutungsvolle
Mythendeutung (so der Arche in der Noahsage, oder des biblischen
Sündenfalls in dem Kapitel „Paradies und Naturdämonie4*) die Aufmerksamkeit
der Religionsphilosophie und auch der christlichen Dog-
matik fesseln. Auf einzelnes einzugehen, ist hier kein Raum.
Daeque, der auch von Ratzel entscheidend beeinflußt ist, ist auf
dem Weg tieferer Naturauffassung vorangeschritten; nicht am Ziel,
doch ungleich mächtiger und eindrucksvoller zu dem fernen Reich
hindeuiend und mit seinen Fragen ringend, um*die „äußere Empirik
der Wissenschaft mit der Innenschau des Sehers zu vereinigen zu einem
symbolhaften Weltbild", das dann überleitet zur Religion. Dieses Weltbild
reift allmählich in dem sich entwickelnden und wandelnden Bewußtsein
einer Zeit. Unmerklich und unwiderstehlich verschiebt sich
das Interesse auch der Wissenschaft: es werden Aufgaben und Lösungen
bedeutungslos und andere steigen am Horizont der Seele auf, für
die vordem noch kein Verständnis möglich war. Die Aufgabe der wissenschaftlichen
Kritik ist dann, das Bewußtsein des Uebergangs zu klären
und den schwierigen erstrebten Ausgleich zwischen Empirie und
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