http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1924/0740
710 Psychische Studien. LI. Jahrgang. 11. Heft. (November 1924.)
abwickeln, so haben wir einen okkulten Materialisationsvorgang vor
uns, der auch nur eine spezielle Ablaufsform naturgemäßen Geschehens
darstellt.
Nach dem oben Gesagten ist es nun nicht mehr allzu schwer, den
Vorgang des medialen künstlerischen Schaffens wie des künstlerischen
Schaffens überhaupt zu verstehen. Die gesamte seelische Tätigkeit,
soweit sie sich auf der physischen Ebene äußert, also objektiv manifest
wird, ist Ausdruck^ewegm^. Jede körperliche Form ist aer
Ausdruck eines seelischen Prinzips auf der physischen Ebene, jede
menschliche Bewegung und Betätigung, jede künstlerische oder technische
Form, kurz jede Lebensäußerung, die den Sinnen zugänglich
ist, drückt etwas Seelisches aus, symbolisiert Seelisches in körperlicher
Form*). Die intensivste Aeußerung dieses elementaren Ausdrucksbedürfnisses
und zugleich seine höchste Steigerung ist die Kunst.
Das künstlerisch schaffende Prinzip liegt im Unterbewußten. Es hat
seine Wurzel in der Zone der Phantasie, der Empfindung und der Ideenbildung
, der stärksten formbildenden Kraft der menschlichen Seele,
Die Inder nehmen eine ätherische Gedankenmaterie an, eine
äußerst plastische Substanz der Astralebene, das sog. Prana, den Gedankenstoff
, aus dem nach ihrer Ansicht alle plastischen Vorstellungen,
Träume, Visionen und Halluzinationen und alle Gedankenformen gebildet
werden. Ihre Hellseher sollen imstande sein, diese Gedankenformen
in der Nähe der Menschen als objektive Gebilde wahrzunehmen
. Auch wenn wir uns dieser Ansicht nicht anschließen, müssen
wir doch zugeben, daß sie sehr gegenständlich ist und daß sie gewisse
Beziehungen zur platonischen Ideenwelt und zu der psychischen Dingwelt
von Haas hat.
Die klinstierische Veranlagung, das Talent, ist eine Funktion des
Unterbewußten, sie beruht teils auf stark plastischer Phantasie, teils auf
der Fähigkeit, diese Vorstellungsformen in irgendeiner Weise nach außen
hin zu objektivieren, sei es musikalisch, bildnerisch, dichterisch oder
tänzerisch. Zwischen der unterbewußten Anlage und ihrer äußeren Bekundung
ist nun das Oberbewußtsein als hemmende und regulierende
bzw. koordinierende Schicht dazwischengeschaltet. Künstlerische Ausbildung
besteht nicht darin, daß oberbewußt und durch rein mechanische
Uebung eine Technik entwickelt wird, denn dann könnte auch
der Untalentierte durch reine Uebung zum Künstler entwickelt werden
, nein, die künstlerische Technik, d. h. die Ausdrucksfähigkeit, ist
in der unterbewußten Anlage entweder vorhanden oder nicht. Der
Sinn der künstlerischen Ausbildung kann mithin nur darin bestehen,
dieser Anlage den Weg durch die sperrende Schicht des Oberbewußtseins
zu bahnen und sie allmählich unter Kontrolle des Willens und
Intellektes zu bringen. Hierzu sind zwei Dinge nötig: Uebung und
Unterweisung; aber auch die Schulung ist nicht als etwas Mechanistisches
und Ober bewußtes aufzufassen, sondern besteht in einer
*) Daher verlaufen auch fast alle schizophrenen und medialen Prozesse
(Träume, Visionen, Halluzinationen, Materialisationen, Kunst) in Symboloform.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1924/0740