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158 Psychische Studien. LH. Jahrgang. 3. Heft. (März 1925.)
tende Hypothese aufgestellt wird, sobald neue Tatsachen beobachtet
sind; aber solange irgendeine Hypothese oder ein leitender Faden, der
wirklich führen kann, fehlt, werden die Tatsachen losgelöst von der
organisierten Wissenschaft erscheinen und verworfen und abgeleugnet
werden, eben auf Grund theoretischer Einwürfe.
Skepsis ist natürlich; sie gründet sich auf den gesunden Menschenverstand
und ähnelt einer modifizierten Version der Argumente David
Humes gegen die Wunder; nämlich, daß es viel wahrscheinlicher sei,
der Zeuge lüge, als daß das Wunder stattfinde; das eine anzunehmen,
stimme in der Tat mit der Erfahrung überein, das andere nicht. Das ist
sehr wahr, aber wenn eine Tatsache eintritt und man demonstrieren
kann, daß das in unserer Zeit und in unserer Gegenwart geschieht, dann
verliert das Argument jeden Wert. Die wissenschaftlich bewiesenen Tatsachen
bereichern die menschliche Erfahrung, sie stellen klar für uns die
Notwendigkeit hin, unsere theoretischen! Fundamente wieder zu revidieren
und zu erweitern. Unwahrscheinliche Sachen können darum nicht weniger
wahr sein. Unsere Kenntnis der Natur ist nicht genügend umfangreich
, um uns zu gestatten, bei einem neuen Forschungsgebiet von vornherein
zu sagen, was möglich sei oder nicht. Faraday selbst, dieser
Fürst unter den Forschern, verfiel so einmal gelegentlich einer en
passant hingeworfenen Bemerkung, dictum obiter", einem bei ihm
selten zu findenden Irrtum. Die Geschichte der Wissenschaft ist
zu schwer belastet durch die voreilige Geringschätzung, mit der neue
Wahrheiten oft beiseite geschoben wurden. Schließlich werden diese
von den nachfolgenden Generationen angenommen, aber die zur Zeit
ihrer Entstehung die Verantwortung tragende Generation steht nicht
auf der Höhe ihrer Aufgabe.
Die zeitgenössischen Wissenschaftler zeigen eine unglückliche Unwissenheit
, was hingehen mag, aber sie sind auch blind, voreingenommen
und bilden betrüblicherweise eine Sekte, wiewohl ihr wegwerfendes
Verhalten ihnen bei den Mitlebenden den Ruf verschafft, sich eines
prachtvollen gesunden Menschenverstandes und einer untadelhaf ten Mentalität
zu erfreuen. Sie sind also weise für ihre Zeit und ihre Generation.
Welch merkwürdige und niederdrückende Feststellung: die Haltung
der theologischen Finsterlinge vergangener Zeiten hat sich in ausgedehntem
Maße bei den Päpsten und Hohepriestern der zeitgenössischen
Wissenschaft wiederholt. Sie stellen stets'ihre wunderbaren Theorien
, ihre vertiefte Kenntnis des Weltalls, die von ihnen beobachteten
Tatsachen den neuen Untersuchungen entgegen, von denen sie zu hören
bekommen, und stützen sich dabei auf a priori gezogene und durchaus
unpassende Schlußfolgerungen. Niemand darf seine Kenntnis des Weltalls
für so vollkommen, für so absolut halten, daß) er sieh berechtigt
glauben darf, schärfste Beweise, die sich auf Erfahrung und genaue Gewichtsbeobachtungen
gründen, abzuleugnen, besonders wenn der Beobachter
schon Beweise seiner Kompetenz auf anderen bekannteren
Gebieten der Wissenschaft gegeben hat. Hypothesen darf man streng
kritisieren, Tatsachen aber fordern Beachtung.
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