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428 Psychische Studien. LH. Jahrgang. 7. Heft. (Juli 1925.)
aus mit echtem Prophezeien verknüpft sein. Nämlich dann, wenn das
Bewußtsein, die Phantasie, in die Eingebungen hineinspielt. Auch ist
es bei visionärem Schauen erklärlich, daß es selten Zeitbestimmungeil
enthält in der bildhaften Darstellung des Vorganges, oder daß diese
Zeitbestimmungen nicht stimmen, weil sie aus der Art des Bildes bewußt
geschlossen sind. Aber doch setzen solche Mängel die Beweiskraft
einer Vorhersage als echte herab.
Bei der Bedeutsamkeit der echten Prophetie wird man nur solche
Vorhersagen für beweisend halten dürfen, die unzweifelhaft die Bewahrheitung
eines geschauten Bildes darstellen, das keine Mutmaßung
zustande bringen, kein Zufall erfüllen konnte. Letzteres kann ausgeschlossen
sein, nicht bei einzelnen Tatsachen, sondern nur bei einem
Tatsachenkomplex, durch die Schilderung vieler, das Ereignis kennzeichnender
Einzelheiten.
Gerade die großen, weit ausschauenden Prophezeiungen hüllen
sich gern in ein mystisches Dunkel. Das Orakel zu Delphi, das vermutlich
auf den supranormalen Leistungen der Pytia beruhte, wurde erst
von Priestern, und zwar möglichst vieldeutig, ausgelegt. Die Sybillini-
schen Bücher ermöglichten den Kirchenvätern, sie auf das Erscheinen
Christi zu deuten. Die Apokalypse ist höchst verworren und dunkel/
Nun, diese prophetischen Denkmäler machen wohl auch kaum den
Anspruch auf Echtheit im Sinne dieser Ausführungen. Anders ist es
aber mit den drei berühmtesten historischen Prophezeiungen.
Es ist die Lehninsche Weissagung über das Schicksal der Brandenburger
, von Abt Herrmann, Kloster Lehnin.
Cazottes Vorhersage der französischen Revolution,
Michel Nostradamus' Hist. Voraussagungen von i555—3789 n. Chr.
Alle drei Prophezeiungen enthalten keine zeitlichen Angaben —
bis auf Ausnahmen; so daß sich die Voraussagen auf irgendein Ereignis
irgendwann anwenden lassen.
Lehnin ist sehr allgemein gehalten, und ein Eintreffen ergibt sich
vereinzelt bei sehr gutwilliger Auslegung. Z. B. kann es kein Beweis für
ein Eintreffen sein, wenn Angaben, die auf Friedrich Wilhelm IL gedeutet
werden, vorhersagen, „er werde im Wasser sterben* — und man
sieht die Erfüllung darin, „daß er in seinem von Seen umgebenen
Schlosse in Potsdam an der Wassersucht starb'4. (Kemmerich, Historische
Prophezeiungen.)
Von der Cazotteschen Vorhersage über das Schicksal verschiedener
Personen in der französischen Revolution, die mit ihnr auf einer
Gesellschaft zusammen waren, ist anzunehmen, daß sie auf unterbewußten
Schlüssen aus hellseherischer Durchschau der Gegenwart basieren
. Die Voraussagen reichen nicht weit, und 1788 — zur Zeit der
Vorhersage — warf die Revolution schon ihre Schatten voraus; so daß
sich für den, der tiefer sah, manche Mutmaßung ermöglichte. Und
wenn bei dieser Prophezeiung vielleicht mehr eintraf, als man hiernach
für möglich halten könnte, so kommt hinzu, daß sie in der uns übermittelten
Fassung ein literarisches Produkt Laharpes ist, das erst nach
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