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Ludwig: Zum sogen. Kugelphänomen. 657
an dessen Wahrheitsliebe zu zweifeln ich keinen, auch nicht den geringsten
Grund habe. In Lengenwang, einem Weiler der Pfarrei Seeg, lebte
ein Jüngling von -etwa zwanzig Jahren. Schon von seiner Kindheit an
litt er an der fallenden Sucht, und zwar in einem unerhört schrecklichen
Grade. Manchen Tag konnte ihn das schreckliche Uebel wohl zwanzigmal
zu Boden werfen. Darauf, bisweilen auch vorher, bekam er einen
tiefen, dumpfen Schlaf von 36—48 Stunden. Seine Eltern, so gerne
sie ihn hatten, konnten ihn nicht mehr zum gemeinschaftlichen Tische
gehen lassen, weil er da von seiner Krankheit gar oft befallen wurde
und dann, von Schrecken und Ekel übermannt, niemand mehr essen
mochte. Die Stiege mußte er immer rückwärts hinabgehen. Versuchte
er ordentlich wie andere Leute herunterzugehen, so stürzte er meistens!
herab und wälzte sich schäumend am Boden. Bei der geringsten Erhitzung
, Anstrengung oder Gemütsbewegung war das Uebel da. Wenn
es ihn im Bette ankam, so warf es ihn mit Macht heraus. Kaum konnten
ihn zwei Männer halten. Sein Vater wußte keinen Rat mehr als ihn
mit Stricken in die Bettstätte hineinzubinden. Weil seine Eltern vermögende
und in ihrem Orte angesehene Leute waren und man diese
Krankheit allgemein scheut, so hielten sie es, soviel nur möglich, geheim
. Sie hätten sich's wohl tausend Gulden kosten lassen, wenn sich
jemand gefunden hätte, der ihrem Sohn um diesen Preis hätte helfen
können. Indes ward die Sache doch kund; denn er hatte drei öffentliche
Anfälle. Ein mächtiger Anfall warf ihn nieder auf den Boden,
dann wieder mehrere Schuhe empor und so in eine dreißig Schuhe entfernte
Wassergrube hinein. Zwei Männer bemerkten es und retteten
ihn, sonst wäre er unfehlbar ertrunken. Bald nachher befiel ihn dieses
schreckhaf te Uebel in der Kirche. Weil diese Plage nach einem heftigen
Anfall gewöhnlich einige Zeit aussetzte, so nahmen die Eltern
keinen Anstand, ihn in die Kirche zu schicken. Er hatte seinen Platz
ganz hinten in der Kirche an der Mauer gewählt. Ich predigte eben.
Auf einmal fiel dieser Mensch mit großem Getöse von seinem Sitz
herab. Alles erschrak, alle Aufmerksamkeit hatte ein Ende. Ich wußte
von der ganzen Sache noch kein Wort und stieg von der Kanzel, zu
sehen, ob ich etwa helfen könne. Der furchtbare Anblick des armen
jungen Menschen, sein schreckliches, von unterlaufenem Blute schwarz
und blau aufgeschwollenes Gesicht, der Schaum vor seinem Munde und
die heftigen Zuckungen, welche die vereinte Kraft von sechs Männern,
die ihn aus der Kirche trugen, kaum bändigen konnte, machte einen
erschütternden Eindruck auf mich. Nach dem Gottesdienste besuchte
ich ihn. Er saß auf der Bank am Ofen, ruhig und lächelnd; doch war
sein Blick noch matt und krank und hatte etwas Zerstörtes. Von nun
an stieg sein Elend aufs höchste. Er konnte gar nicht mehr vorn Bette
aufstehen. Sobald er sich nur aufsetzen wollte, schlug's ihn wieder zurück
ins Bett. Hätte er des Tages hundertmal versucht, aufzustehen,
hundertmal hätte es ihn wieder niedergeworfen. In diesem furchtbaren
, jammervollen Zustand nahm er seine Zuflucht zu Gott. Und
nun will ich seine eigenen Worte nacherzählen, soviel ich mich deren
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