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Seiling: Okkultes im Leben Richard Wagners
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Wie wir aber aus Fournier d'Albes Zurückhaltung entnehmen
können, ist diese Vermutung nicht durchaus selbstverständlich und es
läßt sich in der Tat einiges gegen diese Vermutungen anführen. Abgesehen
davon, daß er später in der Oeffentlichkeit, auch wenn gar kein
Zwang dazu vorlag, völlig für das früher Gesagte eintrat, spricht doch
gegen eine solche gänzliche Sinnesänderung, daß er in seinen letzten
Jahren gerade so wie f\o Jahre vorher im vertrauten Kreise sich nicht
nur für die Echtheit der metapsychischen Phänomene aussprach,
sondern auch für ihre spiritistische Deutung. Wenn man also keine
zweimalige Sinnesänderung annehmen will — wofür man gar keinen
Anlaß hat —, so haben wir seit dem Jahre 1869 bis zu seinem Tode
eine einheitliche Ueberzeugung, und es ist durchaus nicht ohne weiteres
klar, warum er die Unterlagen, die ihm diese Ueberzeugung verschafft
haben, vernichtet hat. Haben vielleicht andere ihn dazu bewogen
, als er im Jähret 1874 die scharfen Angriffe erfuhr und er gab
ihrem Drängen in der ersten Verstimmung nach, nur wenige Aufzeichnungen
sich für später aufbewahrend, die er dann im Jahre 1889
veröffentlichte, oder hat er sie nach dieser Veröffentlichung oder gar
erst in den letzten Jahren vernichtet? Wir wissen es nicht und werden
es wahrscheinlich nie erfahren, so daß um diese Untersuchungen des
größten unter den älteren Forschern wohl immer ein Geheimnis walten
wird. ;
Okkultes im Leben Richard Wagners,
Von Max Seiling, Hof rat a. D., Speyer.
Wenn schon das künstlerische Schaffen im allgemeinen ein okkultes
Gepräge hat, so trifft dies ganz besonders bei Richard Wagner zu.
Dafür spricht eine ganze Reihe bedeutsamer Selbstzeugnisse. So schreibt
er an M. Wesendonk: „Es muß einen unbeschreibbaren inneren Sinn
geben, der ganz hell und tätig nur ist, wenn die nach außen gewandten
Sinne etwa nur träumen. Wenn ich eigentlich nicht mehr deutlich
sehe, noch auch höre, ist dieser Sinn am tätigsten, und er zeigt sich in
seiner Funktion als produktive Ruhe.. . Dieser Blick über die
Welt hinaus — er ist ja auch der einzige, der die Welt versteht."
Ein anderes Mal spricht er von den „Geisterstimmen5*, die ihm im
Traum ihre Melodien zuraunten. Ja, er läßt „das Individuum von Gott
besessen" sein, wenn es „etwas Außergewöhnliches, nur selten Gelingendes
und Allen-zugute-Kommendes zu leisten in Stand gesetzt worden
ist." Ueber „Tristan und Isolde" schreibt er: „Der Tristan ist und
bleibt mir ein Wunder! Wie ich so etwas habe machen können, wird
mir immer unbegreiflicher."*) Unbegreiflich ist vor allem, daß Wagner
*) Diese Empfindung' gegenüber dem aus d^m Unbewußten stammenden
genialen Schaffen, dieses Gefühl der Ichfremdheit der »utonomen intuitiven
Idee ist oft von Dichtern und Künstlern in Worte gekleidet worden fygl.
die zahlreichen Beispiele in dem Kapitel: Intuition und Inspiration meines
kleinen Buches: Gehirn und Seele). Red.
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