http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1925/0767
Fall III.
Eine uns freundschaftlich nahestehende Frau berichtet mir folgendes
, ich gebe den Wortlaut ihrer schriftliehen Aufzeichnungen wieder.
In der Nacht vom 16. zum 17. September 190/1, hatte ich ein
merkwürdiges Erlebnis. Ein schwerer Angsttraum plagte mich, dessen
Inhalt ungefähr dieser war. Ich träumte, ich lag wie immer schlafend
in dem Bette neben meiner Mutter und sali erwachend in der Zimmerecke
, die in meiner Blickrichtung lag, eine Erscheinung stehen. Es
war ein Mann, der untrügliche Aehnlichkeit mit meinem Bruder hatte,
der seit Jahren auf See fuhr, seit kurzem abei in Florida ansäßig
war. Diese Aehnlichkeit war aber derart, daß die Persönlichkeit
meines Bruders, den ich immer als Kind wegen seiner Schönheit und
Stärke sehr bewundert hatte, ins Häßliche, Kleine, Verbrecherische verkehrt
war. Während er selbst dunkelhaarig und sehr groß war, war
dieser Mensch in der Ecke klein und blond. Das Urbild hatte große,
dunkle, kühne Augen, das Phantom kleine, listige, rotgeränderte blaue
Augen, mit denen es mich so anblickte, daß mir ein Schauder nach
dem andern über den Rücken fuhr. Denn es hatte auch noch ein
langes, gebogenes Messer, etwa ein Türkensäbel, in der Hand und
schnitt nun immer durch die Luft, ohne sich mir zu nähern, Streifen
in meinen Arm, der der Zimmerecke zunächst lag. Ich wagte meinen
Arm gar nicht anzusehen, fühlte aber auch keinen Schmerz. Schließlich
wurde ich soweit wach, daß ich meine Mutter rufen und um Licht
bitten konnte, merkte aber zu meinem Entsetzen, daß auch das Licht
das Phantom, das ich im Traume gesehen hatte, nicht verscheuchte;
denn sowie ich meine Augen wieder schloß, merkte ich deutlich, daß
die Erscheinung noch immer in der Ecke stand und mich anblinzelte.
Ich sagte meiner Mutter von dieser Erscheinung, sie ging selbst in die
Ecke, um mich zu ernüchtern, es half nichts, sie selbst vermochte die
Erscheinung nicht zu sehen. Schließlich ging ich auf den Balkon und
hoffte, daß die Nachtluft mich beruhigen würde. Aber selbst eine
Stunde in freier Luft nutzte mir nichts. Sowie ich in dem Bett lag
und die Augen schloß, sah ich, fühlte ich die Erscheinung wieder in der
Ecke. Da gab ich das Schlafen auf und blieb für den Rest der Nacht im
Freien. Nach drei Wochen kam uns die Nachricht, daß mein Bruder
drüben gestorben sei; wie ich sein Todesdatum Ins, fiel mir jene nächtliche
Erscheinung ein. Da ich dem okkulten Gebiet ganz fern stand,
maß ich diesem ,,Zufall von Ereignissen keine weitere Bedeutung bei.
Es ist auch bisher das einzige Erlebnis dieser Art geblieben.
Die Lichtbeständigkeit des zunächst nur für ein Traumbild Gehaltenen
ist vielleicht hervorzuheben. Ich halte diesen Bericht indessen
für meine Person darum für wertvoll, weil ich die Frau, der das geschehen
ist, seit einer Reihe von Jahren ganz genau kenne, und ihre
Objektivität sowohl wie ihre Wahrhaftigkeit außerordentlich hoch einschätze
, und das gibt dem Bericht einen Wrert, den solche Erzählungen
leider keineswegs immer besitzen.
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