http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1966-67/0249
Die hochdeutsche Parallele sagt auch diesmal kaum mehr, tut es aber mit
Pathos, das sich diesmal bukolisch-idyllisch färbt und wegen wiederholender
Umschreibungen zwei Strophen statt einer wie im „Storch" zum Abschreiten
des Bildareals benötigt. Diese bukolische Färbung verrät klassisch-humanistische
Schulung des Verfassers - man fühlt sich an Theokrit und Vergil erinnert
und an Hebels hochdeutsche Nachahmung Theokrits in dem hochdeutschen
Gedicht „Kürze und Länge des Lebens"17 und in dem alemannischen
„Die Feldhüter"18. Die Verwendung des Adjektivs in der Wendung „sichre
Hirten" statt des dem Deutschen eigentümlichen Adverbs weist ebenfalls auf
klassische Sprachgewohnheit und -Vertrautheit; das Bild ist lateinisch konzipiert
. Kein Zweifel, daß „Der Storch" das bessere Gedicht ist. Beide
Lieder liegen etwa ein gutes halbes Jahr auseinander. Das hochdeutsche Friedenslied
wurde offenbar zum Datum der Feier im Juni 1801 gefertigt, das
alemannische ist später entstanden: Am 11. Februar 1802 meldet Hebel an
Freund Hitzig die Fertigstellung des „Storch"19. Diese zeitliche Abfolge ist
nehmen wir Hebel einmal als Verfasser des hochdeutschen Liedes an - durchaus
plausibel: Hebel könnte sich aus konkretem Anlaß mit dem Stoff beschäftigt
und daraus ein etwas mäßiges und blasses hochdeutsches Gedicht
geformt haben, das ihn nicht befriedigte, hat das Thema vielleicht weiter in
sich wirken lassen und es schließlich unter naivem dies als gewollte Kunst-
form zu verstehen - Blickwinkel und in alemannischer Mundart neu gestaltet.
So wenigstens könnte es gewesen sein. Wahrscheinlich ist es so gewesen.
Wahrscheinlichkeit aber ist keine Gewißheit. Unser bisheriger Vergleich bietet
noch keine Sicherheit für die Annahme, Hebel habe das hochdeutsche
Friedenslied tatsächlich verfaßt. Man muß weiter vergleichen, und zwar
jetzt unser Gedicht mit hochdeutschen Gedichten Hebels, wiederum hinsichtlich
Wortschatz, Bildgut und Gedankenführung. Da hierbei einem fraglichen
mehrere gesicherte Gedichte gegenüberzustellen sind, erscheint es
zweckmäßig, das eine, das Lied von 1801, Strophe für Strophe durchzugehen
und darauf zu achten, ob und wo sich Assonanzen dazu aus den mehreren
hochdeutschen Gedichten einstellen:
Beim Überlesen der ersten Strophe schon fällt auf, wie sehr das Friedenslied
dem Lied für die Museumsgesellschaft im Aufbau bzw. in der Mangelhaftigkeit
des Aufbaus ähnlich ist. Auch im Museumslied immer wieder der von
der Gedankenführung nicht motivierte wiederholte Aufruf zum Becherfüllen,
auch im Museumslied immer wieder die vage, aufklärerische, freimaurerische
Appellation an die Menschlichkeit, — das pathetische Apostrophieren von
Freundschaft, Freundesbund und Pflicht nach Wahrheitsstreben samt dem
dazugehörenden pseudoseherischen Voranzeigen und Herwünschen eines
paradiesischen Zeitalters, in dem die sozialen und Volksgegensätze aufgehoben
sind im utopischen Bild einer friedlichen Menschheit bzw. eines gehorsamen
Staatsvolks, das seine Obrigkeit als halbgöttlich oder zumindest als gottgesetzt
ansieht. In Wortwahl wie im thematischen Ansatz unserer ersten
und späterer Friedenliedstrophen vergleichbar sind auch die zwei letzten
Strophen des Gedichts „Zum Neuen Jahr 1804", wo der zeitübliche höfische
17 ZW I S. 294 ff.
18 ZW I S. 220 ff.
19 vgl. die unter Anm. 1 genannte Briefausgabe Nr. 66.
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