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hinter dem Kanapee die Predigt. Da kam einmal sein Onkel, Universitätsprofessor
Dr. med. Ignaz Schwörer [1800-1860] herein und donnerte gegen solchen Unfug
, worüber die Großmutter betrübt war.
Unsere Magd „'s Evle", die 16 Jahre bis zu ihrer Verheiratung bei uns ausgehalten
hat, war der Gendarm des Hauses. Trieben wir etwas Unebenes, so war
der „Teufel", wie Julius sie nannte, oft polternd hinter uns.
Samstag abend wurden wir drei Jüngeren in die Wäsche genommen. Der Reihe
nach, mit entblößtem Oberkörper auf Stühlen sitzend, bearbeitete uns „'s Evle"
mit Seife und Schwamm unter dem Rufe: „In den Ohren könnte man Rübsamen
säen!" Dabei wurde ich gewöhnlich verhöhnt wegen meiner skelettartigen Schlüsselbeine
.
An den Wochentagen bestand unser Frühstück in Kaffee mit Cichorie und Milch
gemischt nebst Schwarzbrot. Der Sparsamkeit halber ordnete die Mutter Suppe
an. Nach wenigen Tagen hatten wir wieder unseren Kaffee, denn „'s Evle", seine
Unentbehrlichkeit kennend, hatte trotzig erklärt, daß es keine Suppe esse.
Ich besitze noch ein altmodisches Kelchglas, aus dem wir Kinder, wenn wieder
ein Brüderchen oder Schwesterchen angekommen war, einen Schluck Malaga zu
einem „Bisquitle" nehmen durften. Tauffeste gab es bei uns nicht.
Mit dem achten Jahre mußte ich in der hiesigen Martinskirche zum ersten Mal
beichten. Mitschüler vor dem Beichtstuhl hörten, wie ich gestand, dürre Zwetschgen
der Mutter gestohlen zu haben. Darüber wurde ich von den Kameraden verhöhnt
; sie nannten mich einen dummen Kerl. Das kränkte mich. Heute noch sehe
ich den offenen Schrank mit Schubladen an der Seite im Hausgang stehen, aus dem
ich eine Handvoll Zwetschgen genommen hatte. Gewissenhafter war ich jedenfalls
als jener ältere Schüler, der im Beichtstuhl den gedruckten „Beichtspiegel" ablas
und sagte: „ich habe die Ehe gebrochen". Der Geistliche sprang aus seinem Gehäuse
, gab dem Burschen eine Ohrfeige und jagte ihn fort.
Am Fronleichnamstage bekamen wir in der Regel nagelneue Kleider. Etliche
Tage vorher brachte uns jede Wolke am Himmel die Sorge, ob die Prozession nicht
vereitelt werde und ob wir in den prächtig geschmückten Straßen bei schöner Musik
in unseren neuen Gewändern prangen könnten. Älter geworden suchten wir
uns als Gymnasiasten von der lästigen Parade auf schlaue Art loszumachen. Mein
Vater wandelte einher in schwarzem Frack, einen Degen an der Seite, unter einem
ungeheueren Schiffhut und die brennende Kerze in der Hand. Später verzichtete
er auf die Teilnahme an dem Prunktage der Kirche.
Im neunten Jahre befiel mich heftiger Husten mit Heiserkeit. Der Vater, auf
Wasserkuren schwörend, verordnete mir stündlich einen Schoppen frischen Wassers
, das er mir oft selbst gebracht hat. Dies währte mehrere Tage. Plötzlich bekam
ich heftige Erstickungsanfälle und erbrach weiße röhrenartige Gebilde. Jetzt erst
wurde der Arzt Professor Dr. med. und Dr. phil. Anton Weber [1798-1873] gerufen
, der mit höchstem Erstaunen ausgehustete Kruppmembrane feststellte; er
hat sie der anatomischen Sammlung der Universität übergeben, wo ich sie 20 Jahre
nachher in Spiritus noch gesehen habe. Oft hielten mich die Leute auf der Straße
an und fragten, ob ich der Knabe sei, der mit kaltem Wasser von der Halsbräune
geheilt worden? Ein Glück, daß die Geschwister von dieser schweren Krankheit,
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