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ohne Eifersucht Gesangsständchen geleitet und dabei mitgesungen, die ihr mein
Bruder Wilhelm und Freund Martin [jetzt Oberstabsarzt a. D.] gebracht haben.
Nach Beendigung des Unterrichts beschlossen wir Tänzer statt des üblichen Kränzchens
eine Nachtmusik. Während des Kriegszustandes bat ich unter Umgehung
des sonst zuständigen Universitätsamtes den preußischen Kommandanten im
Großherzoglichen Palais um die Erlaubnis, einige Gesangsständchen veranstalten
zu dürfen. Auf die Frage, wieviele in der einen Nacht? erwiderte ich: „16". Der
General sagte lachend: „Sie müssen viele Liebchen haben". Während wir in einer
Nacht vor sechszehn Häusern in verschiedenen Stadtteilen je drei fein einstudierte
Männerquartette teilweise im Schneegestöber vortrugen, umgaben uns bewaffnete
preußische Soldaten zum Schutze vor Störungen. Wäre wohl die heutige Jugend zu
derartigen Leistungen imstande? In meinem Abgangszeugnis steht: „Hat sich den
akademischen Gesetzen gemäß betragen mit der Ausnahme, daß er wegen Abhaltung
von Ständchen ohne diesseitige Erlaubnis einen Verweis erhalten hat". Dieses
schlechte Leumundszeugnis beängstigte mich etwas bei dessen Einsendung nach
Karlsruhe zur ersten Staatsprüfung. Die Gemüter waren in der Reaktionszeit so
gedrückt, daß z. B. kein Kandidat es gewagt hätte, mit einem Bart zu erscheinen.
Mit zwanzig Jahren mußte ich mich zur Aushebung stellen. Bei meinem Eintritt
sagte der gewalttätige, von der Bürgerschaft gehaßte Stadtdirektor Mariano Frh.
von Uria-Sarachaga [1812-1876]: „Das ist der Sohn des entlassenen Hofgerichtsrats
". Auf meine Beteuerung der Kurzsichtigkeit unter Hinweis auf die von meinen
Mitschülern Rudolf Nokk und Heinrich Dreyer [1830-1900] - jetzt Reichsgerichtsräte
a. D. - darüber abgegebenen Zeugenaussagen bemerkte von Uria:
„Die Kerls haben sich gegenseitig falsche Zeugnisse ausgestellt". Nach verschiedenen
Brillenproben schienen sich die Ansichten der Herren zu teilen; ich wurde
zweimal hinausgeschickt und erhielt schließlich den Bescheid der Tauglichkeit. Da
ich aber eine hohe Nummer über den Bedarf gezogen hatte, wurde ich in die Reserve
eingestellt.
Die Lehrkräfte an der Universität Freiburg waren schwach. Deshalb setzte ich
es durch, im dritten Semester den berühmten Karl Adolf v. Vangerow [1808 bis
1870] in Heidelberg hören zu dürfen. Wie wichtig ist doch ein tüchtiger Lehrer!
Vangerow behandelte den trockenen Stoff des Römischen Rechts in täglich 3 Stunden
so ausführlich und klar, daß die Pandekten am Schluß des Semesters ohne eingehendes
Nachstudium fest saßen. Erst in Heidelberg ging der wissenschaftliche
Geist in mir auf. Die Vorlesungen Hermann Hettners [1821-1882] über Literatur
und Kunstgeschichte sowie Karl Alexander Frh. von Reichlin-Mildeggs [1801 bis
1877] über „Faust" besuchte ich ununterbrochen, ohne belegt zu haben.
In den letzten Tagen des Semesters nahm ich keine regelmäßigen Mahlzeiten
mehr ein - das Mittagessen mit einer Flasche Wasser kostete mich nie mehr als
14-18 Kreuzer - sondern verzehrte in der Konditorei Amann in der Hauptstraße
Kaffee, Schokolade und Süßigkeiten auf Pump, weil ich bis auf das Fahrgeld zur
Heimreise abgebrannt war. In einem offenen Stehwagen ohne Dach, wie jetzt kein
Stück Vieh mehr befördert wird, fuhr ich bei kaltem Wetter in 7 Stunden nach
Freiburg, legte mich ins Bett und bekam ein gastrisches Fieber.
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