http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1986/0312
scher Kirchen als exemplarisch für die nationalstaatlichen Tendenzen und Impulse
des Historismus. Freiburg steht im Mittelpunkt dieser Entwicklung. Zunächst ist es
der Münsterturm, der sowohl als Einturmfassade wie auch mit Doppeltürmen die
Entwicklung sowohl im Mittelalter wie im 19. Jahrhundert zwischen Burgos und
Köln und zwischen Soest und Regensburg entscheidend beeinflußt. Dieses Thema
behandelt der Autor seit über 20 Jahren an der Freiburger Volkshochschule; für
den Freiburger Almanach schilderte es W. A. Schulze 1982, Ernst Adam häufig in
seinen grundlegenden Werken über den Münsterbau.
Bei einem weiteren, mehr städtebaulichen Aspekt des Strengen Historismus, der
einer breiteren Öffentlichkeit noch kaum vorgestellt wurde, spielt Freiburg gleichfalls
eine tragende Rolle: bei der Umsetzung des nationalstaatlichen Einheitsgedankens
in Architektur als politischem Zeichen der (1871 wiedergewonnenen) Reichseinheit
. Auch hier war der herrliche Münsterturm, den Jakob Burckhardt als den
„schönsten Turm der Christenheit'* bezeichnete, Ausgangspunkt für den baulichen
Gestaltungswillen, wobei dahingestellt sein mag, ob die damals Handelnden sich
dieser symbolischen Tragweite bewußt waren.
Der Münsterturm ist nicht nur ein baukünstlerisches Meisterwerk, zusammen mit
der Vorhalle gilt er als die vollendete Ausbildung der oberrheinischen Einturmfassade
. An ihr orientierten sich nachfolgende Bauhütten und zur Doppelturmfassade
ausgeformt finden wir den Freiburger Einturm in Burgos und in Köln, später in Regensburg
und Münster in Westfalen. Gilt der Freiburger Münsterturm als der
Ausgangs- und Höhepunkt dieser Entwicklung, zugleich war und ist das Münster
mit seinem Turm für das alte wie für das neue Freiburg stadtbildprägend. Denkt
man sich den Münsterturm aus dem Bild der Altstadt fort, so bleibt lediglich die
Ansammlung kleinteiliger Bürgerhäuser übrig. So ist das Münster entscheidend für
das Bild der Stadt und für die Geisteshaltung seiner Bürger; hohe Architektur
dokumentiert zugleich symbolisch das Selbstverständnis einer Epoche.
Eine vergleichbare Entwicklung setzt im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts ein
und die stilistische Rückbesinnung auf historische Vorbilder ist auch eine Wiederbesinnung
auf traditionelle Werte eines Bürgertums, dessen Selbstverständnis sich
im Zeichen des Liberalismus und der Industrialisierung neu zu formen beginnt. So
widersprüchlich es klingen mag, nationalstaatliches Weltbürgertum bot die geistige
Voraussetzung für eine Entwicklung, die der heute unbestrittene Begriff des Historismus
zutreffend bezeichnet. Und nicht übersehen werden sollte, daß der Historismus
wohl der erste internationale Stil schlechthin wurde: seine Bauten findet man
zwischen Washington und Delhi, zwischen Buenos Aires und Leningrad.
Die symbolhaften Auswirkungen des auf nationalstaatliche Bezüge zurückgehenden
Historismus setzt in der Architektur Freiburgs gegen Ende des 19. Jahrhunderts
ein; sie werden zugleich stadtbildprägend und für die Neubaugebiete jener Jahre
ortsbildentscheidend. Es handelt sich um die Wiehre mit der Kirche St. Johann und
ihrem Ensemble und um den Stühlinger mit der Kirche Herz-Jesu und der Lutherkirche
. Die Ensembles um die Christuskirche und um die Kirche Maria-Hilf, beide
in der Wiehre, sind zwar ebenfalls hochrangig, können bei dieser grundsätzlichen
Untersuchung jedoch vernachlässigt werden. Unbeschadet der im Historismus, zumal
in seiner strengen Stilfolge, geltenden Zuordnung einzelner Stile für spezielle
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