http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1987/0338
derer Weg der Industrialisierung sichtbar wird: Nicht die Textil- oder Grundstoffindustrie bildete
den Leitsektor, sondern Produktionsrichtungen, die auf neue, erst durch die Industrialisierung
entstandene Bedürfnisse abzielte. Das Kapital kam aus der Schweiz, wichtig waren die
guten Verkehrsverbindungen in der Grenzlage und das Reservoir an ungelernten Arbeitskräften
im Umland von Singen. Diese Art der Industrialisierung lohnt den Vergleich mit anderen
Entwicklungen, insbesondere mit dem Typus der dezentralen Industrialisierung im südwestdeutschen
Raum, die sich mit der Textilindustrie als Vorreiter in alten Gewerbelandschaften
— wie im Wiesen- und Elztal — vollzog.
Erhöhte Aufmerksamkeit verdienen dabei gerade diejenigen Arbeitskräfte, die aus der dörflichen
Umgebung stammten und sich nun in der Industrie verdingten. In Singen traf dies vor
allem auf die jungen sowie die an- und ungelernten Arbeiter in den großen Fabriken zu, die
zu einem großen Teil zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her pendelten. Daraus erwuchsen
für die Sozialdemokratie und die an ihr orientierten Gewerkschaften schwierige Organisationsprobleme
, weil sie zumindest in der Anfangsphase der Industrialisierung noch zu stark
auf handwerklich ausgebildete Arbeiter ausgerichtet waren. Dagegen stellte sich der Katholische
Arbeiterverein und auch das Zentrum schneller auf die neuen Fabrikarbeiter ein.
Beispielhaft zeigen einige Lebensgeschichten und die Auswertung zahlreicher Gespräche
mit Zeitzeugen, unter welchen Bedingungen die Eingliederung in die Fabrikarbeit stattfand -
häufig wurde sie als höchst bedrohlich empfunden —, wie sich die Verhältnisse am Arbeitsplatz
auswirkten, welche Kommunikationsmöglichkeiten bestanden, wie das betriebliche Sozialwesen
organisiert war und wie man sich zu den Organisationen der Arbeiterbewegung
stellte. Für den einen bedeutete der Bruch mit dem dörflichen Milieu, daß er eine starke Bindung
zur sozialistischen Organisation brauchte, um eine neue Heimat zu finden. Wer einen
solch radikalen Wechsel nicht vornahm, fand eher zu den christlichen Gruppierungen. Trotz
Fortwirkens ländlicher Tradition veränderte sich aber auch seine Lebensweise unter dem Einfluß
der Industriearbeit.
Hatte die Sozialdemokratie anfangs Probleme, die neuen, wenig qualifizierten Arbeitskräfte
passend anzusprechen, so reagierte sie in den Krisenzeiten nach dem Sturz des Kaiserreiches
derart, daß ihr viele Arbeiter nun nach links davonliefen. Die SPD setzte sich zwischen alle
Stühle: sie entfremdete sich dem Bürgertum — mit den Liberalen hatte sie vor dem Ersten
Weltkrieg in einer örtlichen „Großblockpolitik" erfolgreich zusammengearbeitet —, konnte
aber auch die Spaltung der Arbeiterbewegung in Singen nicht verhindern. Die Autoren des
Bandes können deutlich machen, daß diese Spaltung nicht nur eine Frage der „großen Politik"
war, sondern durchaus in den lokalen Bedingungen ihre Basis hatte. 1922 erhielten die Kommunisten
in der Metallarbeiter-Gewerkschaft die Mehrheit. 1931 konnte die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition
große Erfolge erzielen. Ein Jahr zuvor hatte die KPD bei den Reichstagswahlen
die SPD als stärkste Arbeiterpartei überflügelt. Ein wichtiger Zusammenhang wird
aufgezeigt: Die SPD zog sich in den zwanziger Jahren aus dem gerade durch Maifeiern, De
monstrationen und Tätigkeit der Arbeitervereine eroberten „öffentlichen Raum" zurück, den
dann die KPD besetzte.
Für die Identifikation mit dem jeweiligen „Lager", für das Freizeitangebot und die Geselligkeit
, aber auch für praktische Hilfe in Notsituationen waren die sozialistischen wie katholischen
Vereine von hohem Wert. Die Spaltung der Arbeiterbewegung machte sich gegen Ende
der zwanziger Jahre allerdings auch hier bemerkbar. Zugleich verstärkten sich Versuche, der
bürgerlichen Kultur eine eigenständige entgegenzusetzen. Mit der öffentlichen Kultur in Singen
stießen sie ohnehin zusammen, wie die Auseinandersetzungen um die Trennwände zwischen
Frauen- und Männer-Freibad exemplarisch offenlegen. Durch die nationalsozialistische
Herrschaft wurden die Vereine ebenso zerschlagen wie die Gewerkschaften und Parteien der
Arbeiterbewegung. Der Streikaufruf der KPD am 30. und 31. Januar 1933 fand nur geringe
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