http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1988/0209
Beobachtungen eines Bürgermeisters
Am 30. November 1940 plaudert Heß temperamentvoll über einen „Gang durch die
Gemeindebetriebe im Kriege". Er polemisiert gegen Beamtenmentalität und kokettiert
damit, daß er aus der freien Wirtschaft komme; seine Ausführungen würzt er
gelegentlich mit Erinnerungen an die eigene Kindheit, die Einzelheiten nicht nur zur
Geschichte dieses Ortes und der Generation des Bürgermeisters bringen.
Am Montag gehe es am lebhaftesten zu, da man tags zuvor habe überlegen können;
dann kämen die Menschen mit ihren Sorgen und Bitten: „'Mein Mann mußte gestern
einrücken, ich will den Antrag auf Familien-Unterhalt stellen'; ich muß Vorschuß
haben, damit ich für meine Kinder Brot kaufen und die Miete bezahlen kann'; 'ich
habe damals nicht alle Schuldzinsen angegeben, mein Mann hat noch mehr Schulden
'; 'warum bekomme ich nicht mehr Unterhalt, Frau Soundso erhält mehr, wenn
mir nicht sofort geholfen wird, schreibe ich es meinem Mann ins Feld und an den
Führer, oder gehe an die „richtige Stelle", wo es zieht ...'." Dazu bemerkt Heß, es
habe gezogen, es habe die Frau wieder zum Bürgermeister gezogen, der ihr habe eröffnen
müssen, daß sie eben nicht mehr bekommen könne als ihr Ehemann vor der
Einberufung verdient habe, abzüglich 15 %.
Dann die 'Bezugscheine'; man werde 'Fachmann' in allen Wirtschaftszweigen. Jeder
solle erhalten, was er jetzt brauche. Man müsse aber nicht gleich seine Kinder
von der Schule fernhalten, „weil sie angeblich keine Schuhe haben"; am Barfußlaufen
im Sommer sei noch niemand gestorben; „und wenn auch die Zehennägel abgestoßen
sind, wie es zu meinen Zeiten war, wo Schuhe in Massen, jedoch kein Geld zum Kaufen
da war."
Heß vergleicht mit dem „letzten Kriege": Die Vorarbeit auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung
sei bewundernswert; habe man damals „Kohldampf geschoben
", so komme es heute nur selten vor, daß jemand eine kleine Zulage von ihm erbitte
. „Damals" seien es Almosen gewesen; jetzt könne die Familie mit ihrem
Unterhalt „in anständigem, wenn auch bescheidenem Rahmen" leben und ihren Verpflichtungen
nachkommen. Kein Soldat solle durch seinen Dienst am Vaterland seine
Existenz in der Heimat verlieren; zudem sei dafür gesorgt, daß auch die zuhause Gebliebenen
ihren „Tribut" entrichteten, in Form eines fünfzigprozentigen Zuschlags
zur Einkommensteuer als Kriegssteuer. Der im Feld stehende Soldat und Familienvater
solle die Gewißheit haben, daß seine Familie nicht darben müsse, „während andere
, die zu Hause sitzen, sich Reichtümer erwerben"! Der Satz hätte Heß Schwierigkeiten
eintragen können, war doch nicht eindeutig klar, ob er sich (nur) auf die Zeit
1914/18 beziehen sollte.
Hochburg des Nationalsozialismus
Bei der Darstellung alltäglicher Dinge wurde deutlich, daß die Menschen in das Unrechtsregime
eingebunden waren, ohne daß ihnen das oft bewußt geworden sein wird.
Weitere, z. T. gar unverfänglich erscheinende Meldungen, sollen näher betrachtet und
zueinander in Beziehung gesetzt werden.
Das Gemeindeblatt fährt während des Krieges mit der Veröffentlichung der „Memoiren
" des Ortsgruppenleiters der NSDAP fort; sicher war nicht nur der Bürgermei-
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