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ches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher
Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also
vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit."15
Antisemitische Äußerungen kamen im Kaiserreich aus vielerlei Quellen; teilweise
betonte man nur die große Kluft zwischen Deutschen, ihren Ahnen und den Juden,
teilweise griff man die Juden direkt an. Von kirchlicher Seite wurde immer wieder
darauf hingewiesen, daß das Blut Jesu an den Händen der Juden klebe. Besonderes
Gewicht erhielten derartige Aussagen durch die Person des Hofpredigers in Berlin
Adolf Stoecker. Auf der Seite der Wissenschaft war einer der führenden Antisemiten
der als Preußens größter Historiker gefeierte Heinrich von Treitschke von der Berliner
Universität. Unter den Künstlern war es vor allem Richard Wagner, der in antisemitischen
Streitschriften und vielen Aufsätzen seiner „Bayreuther Blätter" dem Antisemitismus
die volle Autorität des umschwärmtesten deutschen Komponisten der
Epoche lieh.16
Alle diese Einflüsse führten schon im 19. Jahrhundert zu Zwischenfällen. So ordnete
im Dezember 1870 der deutsche Militärkommandant von Metz die sofortige Ausweisung
aller Polen an, von denen die meisten Juden waren. Diese Abschiebung von
Männern, Frauen und Kindern war mitten im Winter und angesichts der Knappheit
von Transportmitteln eine ausgesprochene Unmenschlichkeit. 1881 gab es öffentliche
Ausschreitungen gegen die Juden, die bekannteste in Neustettin in der Nähe von Var-
zin. Ein antisemitischer Demagoge hielt eine Hetzrede gegen die Juden, und daran
anschließend wurde die Synagoge niedergebrannt.17
Daneben richtete sich ein wachsender, aggressiver Nationalismus gegen alle Minderheiten
im Deutschen Reich; den Neid gegen alle besser Verdienenden, und darunter
waren sehr viele Juden, bezeichnete der Historiker Fritz Stern als das „Nationalübel
der Deutschen".18 Zur Erklärung sei angeführt, daß 1881 2 bis 3 Prozent der
Bevölkerung Berlins Juden waren; die Juden stellten aber 8,6 Prozent der Schriftsteller
und Journalisten, 25,8 Prozent der Börsianer und 46 Prozent der Kaufleute. In
einem Bericht der Britischen Botschaft vom Anfang der achtziger Jahre hieß es, das
Kapital der Hauptstadt gehe rapide in die Hände einer begrenzten Zahl von Juden
über, die enorm reich seien, nachdem die Industrie die alten Interessen der Agrarier
geschmälert habe.19
Viele Juden der bürgerlichen Schichten versuchten sich zu assimilieren und in die
oberen Schichten des Kaiserreiches zu integrieren. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges
führte bei den deutschen Juden zu einer Welle nationaler Begeisterung. Der
jüdische Zentralverein richtete an seine Mitglieder den folgenden Appell: „Daß jeder
Deutsche zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist
selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht
hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilet freiwillig zu den Fahnen! Ihr alle
— Männer und Frauen — stellt Euch durch persönliche Hilfeleistung jeder Art und
durch Hergabe von Geld und Gut in den Dienst des Vaterlandes!" Der jüdische sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank meldete sich als einer der
ersten als Kriegsfreiwilliger und fiel schon nach kurzer Zeit.20
In der Weimarer Republik gab es eine größere Einwanderungswelle von Ostjuden,
die nach dem Ende des Zarenreiches in wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen
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