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derum sieht im 19. Jahrhundert den dritten großen geistigen Typus der modernen
Kultur — neben Aufklärung und Idealismus. Der „realistisch-demokratisch-kapitalistische
Geist" habe alle Lebensäußerungen dieser Epoche geprägt, so den Aufschwung
der Erfahrungswissenschaften, den Siegeszug der Technik, die Entfaltung
und Entfesselung der wirtschaftlichen Kräfte, den Aufbau des modernen Staates mit
seiner zentralen Bürokratie, die Rationalisierung aller Lebenszusammenhänge in
Theorie und Praxis, die getragen sei durch den Glauben an die Gestaltbarkeit der Verhältnisse
und einen dynamischen Fortschrittsoptimismus für eine bessere Zukunft.8
Den Blick näher auf unseren Gegenstand gerichtet, muß auf Darwin verwiesen
werden, der die natürliche Entstehungsgeschichte des Menschen darstellt und damit
zu einem radikal säkularisierten Weltbild beiträgt, dem viele führende Mediziner huldigen
. Der Mensch wird als integraler Bestandteil der Natur gesehen, und das nicht
nur in seinen körperlichen, sondern auch in seinen seelischen Funktionen, durch
Freud realisiert. Es kommt aber auch zur Identitiätskrise, die Nietzsche als Krise des
Fortschrittsglaubens formuliert, er fordert statt Flucht in Positivismus, Historismus
und Relativismus die „Umwertung aller Werte"; er markiert den „revolutionären
Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts".9
Das Großherzogtum Baden war unter den Staaten, die 1815 den Deutschen Bund
bildeten, der kleinste, hatte jedoch bis zur Reichsgründung 1870 „eine weit über seine
reale machtpolitische Stellung hinausgehende Bedeutung" im politischen Leben
Deutschlands erlangt.10 Es hatte 1818 die fortschrittlichste Verfassung eines deutschen
Staates erhalten; im „Vormärz" galt die badische Kammer als Hochburg des
deutschen Liberalismus"; die Verbindung der liberalen und nationalen Ideen bewirkte
, daß von hier starke Impulse für die Revolution von 1848 ausgingen. Die erste
sozialpolitische Rede wurde 1837 in der badischen Kammer gehalten! „Diese ganze
Entwicklung fand schließlich ihren Höhepunkt in der „Neuen Ära" der 60er Jahre,
dem großangelegten Versuch, von der Basis des hier erstmals in einem deutschen
Staat eingeführten parlamentarischen Systems aus Staat und Gesellschaft, modellhaft
für ganz Deutschland, nach liberalen und rechsstaatlichen Prinzipien umzugestalten
und zugleich im Bunde mit der nationalen Bewegung und mit Preußen den Prozeß
der bundesstaatlichen Einigung im kleindeutschen Sinne in Gang zu bringen." 11
An der Spitze dieses Staates stand Friedrich I., der 1843 bis 1845 in Heidelberg
unter anderem bei L. Häusser studiert hatte, wo die wesentlichen Grundlagen für
seine liberale und protestantisch-nationale Haltung gelegt wurden. Der Beginn der
„Neuen Ära" hatte seine Vorgeschichte darin, daß es 1859 zum Abschluß einer Konvention
(Konkordat) zwischen dem Großherzogtum Baden und dem Heiligen Stuhl
gekommen war, die vom Großherzog mit dem Vorbehalt unterzeichnet wurde, daß die
Zweite Kammer ihre Zustimmung zu einer Reihe von Gesetzesänderungen geben
müßte, die die Einführung der Konvention nach sich ziehen würde. Die Regierung
hatte eine Reihe von Zugeständnissen gemacht, die auch im wesentlichen die Streitpunkte
für die nächsten Jahre darstellen sollten. Sie betrafen das Erziehungs- und Bildungswesen
, die Lehrfreiheit an der Universität, Ehegesetzgebung und die Gültigkeit
des Kanonischen Rechts.
Kaum war der Inhalt des Konkordats in Baden bekannt geworden, erhob sich ein
Sturm, wie ihn das Land seit 1848 nicht mehr erlebt hatte. Man sah das staatliche
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