http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1989/0235
ist es heutzutage dahin gekommen, daß man unter Aphasie nicht mehr die eigentlichen
Sprachstörungen begreift, sondern den ganzen, bald großen, bald kleinen
Symptomenkomplex, unter dessen Bild die Ausführung oder das Verständnis irgendwelcher
Zeichen, durch die der Mensch seine Vorstellungen und Gefühle anderen
mitteilt, beeinträchtig ist."77 G. Oepen stellt dieser die heutige Definition der Aphasie
gegenüber und zeigt damit, daß Kußmauls Definition bis heute modern geblieben
ist: „Aphasien sind zentale Sprachstörungen, die linguistisch als Beeinträchtigung in
den verschiedenen Komponenten des Sprachsystems zu beschreiben sind. Die aphasi-
schen Störungen erstrecken sich auf alle expressiven und rezeptiven sprachlichen
Modalitäten, auf Sprechen und Verstehen, Lesen und Schreiben, wobei im Prinzip
dieselben sprachsystematischen Merkmale der Störungen nachweisbar sind."78 Kußmaul
handelt die Sprachstörungen bei Psychosen und fieberhaften Zuständen systematisch
ab und gibt eine plastische Darstellung der verschiedenen Arten des Stot-
terns, Stammeins und Stolperns, die bis heute beispielhaft geblieben ist. Verdeutlicht
wird das Ganze durch außerordentlich praxisnahe Fall Schilderungen mit wörtlichen
Darstellungen der Störungen. Er entwickelt schließlich eine ebenfalls sehr moderne
Hypothese der dynamischen Lokalisationskonzeption gegenüber den seinerzeit favorisierten
lokalen Orten der Sprachstörung. Oepen betont, daß Kußmaul in Teilen seines
Werks Gesichtspunkte herausgearbeitet hat, die „erst in neueren neurophysiologi-
schen Arbeiten genügende Beachtung und Begründung erfahren haben."79
Kußmaul hat sich seinerzeit — genau wie heute — der intellektuell sicher anspruchvollsten
Aufgabe der Medidzin angenommen und eine Summe der Neurowis-
senschaften gegeben. In dieser 299 Seiten umfassenden Abhandlung hat er eine umfassende
Darstellung aller mit der Sprache zusammenhängenden Phänomene bei
Gesunden und Kranken, in Neurologie (Aphasien im engeren Sinne), Innerer Medizin
(Fieber — Logorrhoe), Hals- Nasen-, Ohrenheilkunde (Artikulationsstörungen)
und Psychiatrie (Dysphrasien bzw. Dyslogien) erarbeitet. So ist ihm eine bis heute
bleibende Leistung gelungen.
5. Kußmaul als klinischer Lehrer
Über seine systematische Vorlesung „ Spezielle Pathologie und Therapie" haben wir
genaue Kenntnisse, weil es zwei Vorlesungsmitschriften gibt. Die erste stammt von
Julius Müller, cand. med., der sie im Winter- und Sommersemester 1864/65 gehört
hat; die zweite von Hermann Engesser, der sie 1868/69 hörte. Julius Benjamin Müller
wurde am 27. Juni 1839 in Kuhbach bei Lahr geboren und starb am 9. Oktober 1921
in Kenzingen. Er war Sohn eines Dorfschulmeisters und verdiente sich sein Studium
in Freiburg durch Schreiben von Noten und Klavierunterricht. 1867—69 war er als
praktischer Arzt Assistent von Kußmaul. In dieser Zeit hat er mit ihm zusammen die
Versuche zur Spiegelung von Speiseröhre und Magen unternommen. Danach war er
als praktischer Arzt in Kenzingen tätig; von 1914—17 arbeitete er noch als Lazarettarzt
in Freiburg. Er wurde Ehrenbürger von Kenzingen. Seine direkten Nachfahren sind
dort in der vierten Generation Ärzte. Die im Familienbesitz befindliche Vorlesungsmitschrift
mißt 16 x 21 cm und umfaßt 814 Seiten; in Halbleder gebunden wirkt sie
recht abgegriffen, was auf den späteren praktischen Gebrauch hinweist. Sie ist zu
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