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In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation Rosa Luxemburgs über die
Funktion der — in Freiburg an zentraler Stelle ihrer Rede — verurteilten Exzesse von
Soldatenmißhandlung und unbedingtem „Kadavergehorsam der Armee". In einem
Artikel im „Vorwärts" wird Rosa Luxemburg zwei Monate später diese Formen der
Erniedrigung in den Kasernen damit erklären, daß diese nicht nur die Kolonialverbrechen
in Übersee, sondern auch den bürgerkriegsähnlichen Einsatz im eigenen
Land erst möglich machen, „Die Mißhandlungen gehören zum eisernen Bestand der
militärischen Erziehungsmethoden. Sie sind nötig, willenlose Sklaven aus den Soldaten
zu machen, [. ..] die sich gebrauchen lassen, jene Scheußlichkeiten zu begehen,
die wir im Chinafeldzug, in dem Kampf gegen die Hereros erleben mußten. Sie sind
auch nötig, damit der Soldat, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit ist, auf seine
Arbeiterbrüder, auf Vater und Mutter zu schießen"49
Neben der Tatsache, daß die Hierarchie im Militär, die jener in der Gesellschaft
weitgehend entspreche, eine zusätzliche Vertiefung der Klassengegensätze herbeiführe
,50 bedeutet die allgemeine Wehrpflicht im Verständnis Rosa Luxemburgs demnach
einen weiteren Machtgewinn der Bourgeoisie über das Proletariat durch das
Proletariat (als Wehrpflichtige) und sichere so in doppelter Weise die herrschende gegen
die beherrschte Klasse ab. Zusammen mit der zuvor behandelten wirtschaftlichen
Bedeutung des Militarismus für den Kapitalismus führt dieser politische Aspekt der
gezielten Pazifizierung der Arbeiterschaft Rosa Luxemburg zu der generellen Überzeugung
: „Der Militarismus [...] bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die
glänzendste unersetzliche Anlageart wie gesellschaftlich die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft
"51
Vor dem Hintergrund der von ihr konstatierten Instrumentalisierung des Militarismus
durch Bourgeoisie und Kapital zur Stabilisierung ihrer Machtposition und zum
Ausbau ihrer wirtschaftlichen Profite, ja zur Lebenserhaltung des Systems schlechthin
, kommt Rosa Luxemburg zu der Auffassung, daß der Militarismus nicht durch
Bekämpfung seiner verschiedenen Ausdrucksformen (Wehrpflicht, Aufrüstung,
Schinderei), sondern nur durch den totalen Sturz der ihm zugrundeliegenden polit-
ökonomischen Ordnung zu beseitigen sei. „Wir wissen sehr wohl", sagt die Rednerin
in Freiburg, „daß wir den ewigen Frieden, die internationale Solidarität erst dann zu
Fleisch und Blut machen können, wenn es uns gelingen wird, [. . . ] den Kapitalismus
abzuschaffen." Solange die Grundübel der bestehenden Klassengesellschaft, „die
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das Privateigentum", nicht „mit
Stumpf und Stiel ausgerottet" seien, solange seien alle „internationalen Konflikte
nicht zu vermeiden".
Spätestens seit der unversöhnlichen Revisionismus-Debatte mit Bernstein um die
Jahrhundertwende52 hatte Rosa Luxemburg wiederholt darauf hingewiesen, daß es
ein Irrglaube sei, die Ideale des Sozialismus der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung
nach und nach abtrotzen zu können. Das herrschende System war ihrer Meinung
nach aus sich selbst heraus nicht reformierbar, sondern konnte nur durch die proletarische
Erhebung in seiner Gesamtheit abgelöst werden. Kompromisse mit den regierenden
Machthabern lehnte Luxemburg dabei ebenso ab wie die zeitweilige Kooperation
mit den gemäßigten bürgerlichen Kräften zum Zwecke eines gemeinsamen,
höheren Zieles, wie sie etwa Karl Kautsky 1912 für die Durchsetzung einer umfessen-
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