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Bernsteins auf solch fruchtbaren Boden gefallen wie im deutschen Südwesten.83
Spätestens seit 1899 wurde der Sonderweg der süddeutschen Genossen auch auf der
parlamentarischen Ebene sichtbar, als die badische SPD gemeinsam mit den bürgerlichen
Oppositionsparteien Linksliberale und Zentrum begann, die Dominanz der Nationalliberalen
in der 2. Kammer auszuhebein, um eine Reform des badischen Wahl™
rechtes durchzusetzen, wie sie schließlich 1904 auch verwirklicht wurde.84 Ein Jahr
später veränderte die SPD ihre Liaison mit den bürgerlichen Parteien geringfügig:
Zusammen mit den Linksliberalen, den Demokraten und diesmal sogar den National-
liberalen ging sie eine interfraktionelle Zusammenarbeit ein, von der nur das Zentrum
, hauptsächlich seiner kultuspolitischen Vorstellungen wegen, ausgenommen
blieb. Die badische SPD befand sich damit zum zweiten Mal in einer Art bürgerlichsozialdemokratischer
Mehrheitskoalition. Zwar hingen von dieser weder Bildung
noch Rechenschaftspflicht der badischen Regierung ab, da nach der Verfassung allein
der Großherzog das Kabinett bestellte, aber die Gesetzgebung und vor allem die Bewilligung
des Haushaltes waren vom parlamentarischen Votum und damit seit 1905
auch von der SPD in ihrer ungewöhnlichen Koalition abhängig.
Durch die Kooperation mit den anderen Parteien im Landtag schlug die SPD Badens
einen erklärt reformistischen Weg ein und entfernte sich so mehr und mehr von
ihren Parteigenossen vor allem in den nördlichen Ländern. Für die Badener war die
schrittweise Durchsetzung ihrer Forderungen ein akzeptabler Weg zum sozialistischen
Gesamtziel; der Krisentheorie von der kapitalistischen Supernova, die gleichzeitig
der Urknall zur klassenlosen Gesellschaft sein würde, hatte man schon lange
abgeschworen. Statt dessen stand für die Sozialdemokraten Badens Tagespolitik auf
dem Programm. Die Erfolge, die die SPD im Großblock verzeichnen konnte, waren
bruchstückhaft, aber stetig. Darunter waren eminente sozialpolitische Errungenschaften
wie die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung, die Anhebung der niederen
Lehrergehälter und Fortschritte im Bereich der Volksbildung.85
Die Auseinandersetzung mit den anderen Landesverbänden der SPD, die auf dem
Dresdner Parteitag 1903 mehrheitlich dem Revisionismus den Kampf angesagt hatten,
war jedoch vorprogrammiert. Sie entlud sich vor allem 1908 und 1910, als die SPD
zusammen mit ihren parlamentarischen Nachbarn vom Großblock dem badischen
Staatsetat zustimmte. Auf den Parteitagen der SPD in Nürnberg (1908) und Magdeburg
(1910) wurden die badischen Genossen als Verräter an der sozialistischen Sache
gebrandmarkt und sogar ihr Parteiausschluß erwogen.86 Rosa Luxemburg beteiligte
sich in vorderster Front an dem parteiinternen Feldzug gegen die Badener. Nachdem
sie 1901 schon die erste Budgetbewilligung der SPD im badischen Landtag als „Verleugnung
der elementarsten Begriffe der Sozialdemokratie" bezeichnet und namentlich
die apologetischen Bemühungen des Abgeordneten Anton Fendrich zerpflückt
hatte,87 hielt sie den badischen Delegierten in Nürnberg sieben Jahre später in gewohnter
Polemik vor, die vermeintlichen Erfolge der SPD im Großblock sollten nur
über ihre Kompromittierbarkeit durch die Klassengesellschaft im Großherzogtum
hinwegtäuschen. Die SPD im Südwesten habe in Wirklichkeit längst „die prinzipielle
Feindschaft gegen den bestehenden Staat auf Schritt und Tritt — und zwar auch durch
die Budgetabstimmung" — aufgegeben und sei zum Büttel von Bürgertum und Regierung
geworden.88
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