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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1993/0219
Lebens" beschrieben, „daß unser ganzes Leben davon erfüllt war, daß es die Luft war um
mich von Anbeginn" (Bd. 2, S. 187). — Zu dieser Zeit hatte die Abwanderung vieler Juden
in die Städte begonnen, die ihnen durch die endlich gewährte rechtliche Emanzipation möglich
geworden war. 1895 zog auch Picards Familie nach Konstanz, er selbst wohnte von nun an
fest nur noch in Städten. Dies bedeutete eine schwere Erschütterung für die in den Dörfern
Zurückgebliebenen. Seit dem „Dritten Reich" ist das Landjudentum vollends ausgelöscht.
Erst seit kurzem wendet sich die historische Forschung ihm zu. In den Werken Picards wird
seine Welt vor uns wieder lebendig. Wir begegnen jüdischen Hausierern und Händlern, den
Mittlern zwischen Stadt und Land, die mit den christlichen Bauern etwa des Schwarzwaldes
als „Fremde und doch Vertraute" (Bd. 1, S. 17) umgingen. Jüdische Feste und Bräuche werden
ebenso anschaulich wie die Strukturen der jüdischen Gemeinden, die soziale Hierarchie, die
engen Bindungen untereinander, aber auch die negativen Folgen der dichten sozialen Kontrolle
. Einige Erzählungen deuten schon die Auswirkungen der Emanzipation auf die Juden
an. Picards Geschichten sind Dichtungen von hohem Rang, mit beeindruckender sprachlicher
Kraft und anrührender Sensibilität. Zugleich stellen sie Zeugnisse „mündlicher Geschichte"
dar, weil sie auf der — eigenen oder überlieferten ~~ Kenntnis des Milieus, vieler Gestalten
und geschilderter Ereignisse beruhen (vgl. Bd. 2, S. 308). Der Historiker kann deshalb mit
ihnen als wichtiger Quelle in einen Dialog eintreten. — Picard erfuhr das Zusammenleben mit
den christlichen Nachbarn als friedlich (Bd. 2, S. 193). Als Jugendlicher wurde er allerdings
von einem Mädchen als „Judenbub" abgewiesen (Bd. 2 S. 86). Immer wieder kam er nun in
Berührung mit antisemitischen Tendenzen, gegen die er, durchaus patriotisch deutsch gesinnt,
sich aktiv wandte. Nach 1933 konnte er weder seinen Beruf als Rechtsanwalt ausüben noch
frei publizieren. 1940 gelang ihm die Emigration in die USA. In autobiographischen Erzählungen
, die in der Werkauswahl abgedruckt sind, hat er die Zeit des Nationalsozialismus eindringlich
thematisiert. Während seiner Emigration verfaßte er eine Biographie Franz Sigels,
des badischen Revolutionärs von 1848, die leider bis heute nicht veröffentlicht werden konnte.
An seinem Lebensende kehrte Picard noch einmal nach Deutschland zurück. 1967 ist er in
Konstanz gestorben.

Manfred Bosch hat die Werkauswahl zusammengestellt, die auch noch Gedichte und literarische
Essays enthält, etwa über Berthold Auerbach, über Albert Mombert und seine teilweise
im Lager Gurs entstandene Dichtung oder über Gertrud Kolmar, Bosch verdanken wir eben-
fells Wörterklärungen des „alemannischen Hebräisch" sowie ein informatives und einfühlsamen
Nachwort, das nicht zuletzt zahlreiche Zeugnisse aus Picards Nachlaß im New Yorker
Leo Baeck-Institut bekannt macht. Vom Verlag ist das Werk schön ausgestattet worden; erwähnt
seien nur die abgedruckten Bilder von Benno Elkan und Bruno Epple.

Heiko Haumann

Kurt Anschütz, Protestantismus und Arbeiterschaft, Von der Bewältigung des Alltags in
St. Georgen im Schwarzwald 1914—23. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1992.
496 S., 80 Abb.

Diese Dissertation versteht sich als „theologisch reflektierte Kirchengeschichte in gesellschaftsgeschichtlicher
Perspektive" (S. 11, 298), die zugleich Teil eines umfassenden Forschungsprojektes
zu den Voraussetzungen und der Geschichte des „Kirchenkampfes" in der
„Hochburg des Protestantismus" St. Georgen (S. 9) während des „Dritten Reiches" sein soll.
Auf der Grundlage reichhaltigen Materials — darunter zahlreicher Zeitzeugen-Berichte -
zeichnet Anschütz zunächst „Leben und Glauben" im Ersten Weltkrieg nach und macht ausführlich
die ökonomische und soziale Notlage der Bevölkerung in der Nachkriegszeit deutlich.
Revolutionäre Erschütterungen fielen eher gemäßigt aus, Unruhen — wie die „Milchdemonstration
" am 10. August 1920 (S. 66—67) — blieben eine Ausnahme. Um so spürbarer war

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