http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1995/0176
Schreibers so überraschend eigenständig anmutende Ansicht erklärt sich schnell*
wenn man seine (klein-)bürgerliche Herkunft ins Auge faßt. Der Begründer der
Frankfurter Gesellschaft, der Reichsfreiherr vom Stein, war aufgrund seiner familiären
Herkunft, seiner gesellschaftlichen Stellung und seines politischen Wirkens auf
das Reich ausgerichtet; nach seinem „Zurücktreten aus den öffentlichen Verhältnissen
" 1815 richtete sich deshalb sein Interesse, wenn es sich schon der Geschichte zuwandte
, selbstverständlich auf die Reichsgeschichte — zumal nur das Studium des
mittelalterlichen Kaiserreichs jenen Wunschtraum beflügeln konnte, der politisch
nicht realisiert worden war: die nationale Einigung.52 Ähnliches gilt für den Reichsfreiherrn
v. Laßberg, der noch 1814, auf dem Wiener Kongreß, mit einigen Gleichgesinnten
aus den Kreisen der ehemaligen Reichsritterschaft die Adelsgesellschaft „Zur
Kette" begründet und mit aristokratisch-ritterlichem Ethos um die Wiedergeburt des
deutschen Reichsadels gekämpft hat — wenn auch ohne Erfolg.53 Wie ganz anders
dagegen, lokal begrenzt, auf die Stadt, auf den Breisgau und allenfalls auf Vorderösterreich
ausgerichtet, war das Milieu, in dem Heinrich Schreiber aufgewachsen ist
und in dessen Rahmen sich das politische Geschehen für ihn konkret faßbar abgespielt
hatte. Kein Wunder also, daß für ihn die Geschichte des bürgerlichen Lebens,
der Stadt und ihres Umlandes am faszinierendsten war, Diese Faszination führte ihn
zur Überzeugung, daß erst die Fülle des Einzelnen in einem höheren Sinn „das große
freudige Bild eines allgemeinen Lebens giebt".54
Mit kritischen Einwänden bedenkt Schreiber in seinem Brief an Laßberg auch die
Entscheidung der Frankfurter Gesellschaft, sich ganz auf die Edition historischer
Quellen zu konzentrieren, zumal da diese Zielrichtung, wie er meint, von den regionalen
Vereinen unkritisch übernommen werden könnte: „Soll ein Provinzialverein
wieder blose Materialien (Chroniken, Urkunden u.s.w.) zu Tage fördern? Die gegenwärtige
Einrichtung mehrerer bereits bestehender Vereine scheint mir ganz dahin abzuzielen
, und der deutsche Charakter entspricht auch dieser Einrichtung vollkommen
. Wir sind einmal gewöhnt, mit unsäglichem Fleisse zu sammeln, ängstlich nach
allen Seiten hinzublicken? ob nicht noch etwas vergessen seyn möchte, Bände auf
Bände zu häufen, kurz: wir bereiten lieber vor, als wir ausarbeiten. Aber was gewinnen
wir hiemit? ... [Es] kann der Bearbeiter eines einzelnen Geschlechtes, Klosters,
einer Stadt u.s.w. leicht bei mehrjährigem Eifer die gehörigen Materialien sammeln
und ordnen. Provinzialvereine können ihr Gebieth übersehen. Ich habe die Geschichte
von Freiburg bearbeitet und hiezu das städtische Archiv sowohl als Mittheilungen
von Seite meiner Freunde auf das sorgfältigste benützt; jedes Wort der Geschichte
ist urkundlich belegt, und findet auch das Diplomatarium Abnehmer, so bin
ich bereit, es anzuschließen. Freilich muß ich dennoch besorgen, daß mir noch eine
oder die andere Notiz entgangen ist, die ich erst später in einem Archive da oder dort
entdecken werde; aber sollte mich diese Rücksicht von der Bearbeitung selbst abgehalten
und dazu veranlaßt haben, die Materialien für sich zu geben, weil möglicher
Weise noch mehrere Materialien dazukommen, sich wahrscheinlich noch Manches
erweitern oder auch berichtigen wird? Ich glaube nicht und muß daher stets zu derselben
Ansicht zurückkehren: Provinzialvereine müssen, da es ihre Zeit ist (denn eine
andere Zeit wird wieder landwirtschaftliche, pädagogische, politische u.s.w. Vereine
erzeugen), nicht nur Materialien sammeln, sondern sie auch bearbeiten " In dieser
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