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Schreiber an Laßberg; Freiburg, IL IL 1820
Hochwohlgeborner, Gnädiger Herr!
Wie mir Herr Archivrath Leichtlen1 aus einem Briefe von Ihnen mittheilte, beschäftigen
Sich Euer Hochwohlgeboren mit einem Plane, dem auch ich schon seit
längerer Zeit manche Stunde widmete, und den ich sehr gerne ausgeführt sehen
möchte. Hat unser Deutschland in wahrlich sehr raschen Uebergängen seine philosophische
, ästhetische und politische Periode durchlebt, so scheint nun die historische
gekommen zu seyn; auf wie lange, läßt sich wohl bei dem immer fortgesetzten gäh-
renden Treiben kaum bestimmen. Indessen muß es Jedem, dem es redlich um sein
Vaterland oder nur sein engeres heimathliches Gebieth zu thun ist, daran liegen, der
flüchtigen Periode und dem Wechsel ihrer Erscheinungen so viel Bleibendes als nur
möglich abgewinnen zu helfen. Mit Vergnügen muß daher jeder Unbefangene das
Wirken des Frankfurter Vereines2 für unsere Geschichte ansehen und anerkennen,
wenn er gleich überzeugt ist, daß schwerlich viel Neues gewonnen werden wird oder
kann. Es ist schon genug, daß nur die allgemeinen Quellen zusammengeleitet, gereiniget
und zugänglicher, dadurch in jedem Falle für den künftigen Geschichtschreiber
Deutschlands brauchbarer gemacht werden.
Aber, wie Euer Hochwohlgeboren wohl wissen, ist das deutsche Mittelalter weniger
einem Strome, oder einem Zusammenflusse vieler Quellen und Bäche, als vielmehr
einem weiten Landstriche zu vergleichen, aus dem hunderte von Quellen aus
eigener Kraft hervorsprudeln, bisweilen sich vereinigen, häufiger aber lange ihren
eigenthümlichen Weg fortsetzen, und dadurch eine Fülle selbständigen Lebens zeigen
, die, ohne nächste Beziehung auf das Ganze, erst in höherem Sinne das grosse
freudige Bild eines allgemeinen Lebens giebt. Wer möchte nicht hier an die Menge
selbständig aufblühender und wirkender Edelsitze, an die ersten Niederlassungen und
Einflüsse der Clöster, dann an das gewaltig aufsprühende Leben denken, als da und
dort die Städte sich erhoben, die sämtlich ursprünglich und ihrer nächsten historischen
Bedeutung nach für sich vereinzelt wirkten und erst in weiter Uebersicht das
Bild des deutschen Lebens überhaupt geben.
Die deutsche Geschichte vorzugsweise aus allgemeinen Quellen entwickeln zu wollen
, scheint mir daher vergebliche Mühe; Deutschland hat kein Rom oder Paris, in
dem sich seine Nation vereinigte, sein Kaiser war wohl ein Verbindungsglied, aber
ein sehr schwaches; häufig both ihm eine Stadt oder ein Edler Trotz, und er war mit
aller Anstrengung kaum oder auch nicht vermögend, das ungebunden aufstrebende
besondere Leben in den Gang eines gewünschten allgemeinen hineinzuzwingen. Daher
ist, was wohl so oft übersehen wird, für Deutschland die Geschichte jeder Stadt,
fast jedes edeln Hauses von Wichtigkeit, und man wird die allgemeine Geschichte
erst recht verstehen lernen, wenn man sich in der speziellsten auf das eifrigste umgesehen
hat.
Darum waren mir auch sogleich die da und dort entstehenden Provinzialvereine für
deutsche Geschichte von höchster Wichtigkeit, und ich bin noch jetzt geneigt, von
gehörig geleiteten Provinzialvereinen mehr für das Wesen der deutschen Geschichte
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