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Von ägyptischer Kunst über die Nachahmung der Antike, der Romanik, Gotik,
der Renaissance, des Barock und Rokoko spannte sich im wesentlichen die Mannigfaltigkeit
der stilistischen Wiederaufnahmen; eine Vielfalt, die der künstlerischen
Produktion dieses Säkulums kein Lob, sondern schon bald massive Kritik eingebracht
hat.
Bereits unmittelbar am Ende dieses Zeitabschnittes untersuchte Cornelius Gurlitt
in seiner umfangreichen Monographie „Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts
(1899)"7 das ästhetische Wollen der verflossenen Epoche. Dabei deutet der
Untertitel seiner Veröffentlichungen „Ihre Ziele und Thaten" die anstehende „Ab-
rechnung" an.
Es ist bemerkenswert, daß dieses Buch zu einem Zeitpunkt erschien, in dem die
Nachahmung der historischen Stile, insbesondere in der Architektur, noch die übliche
Art der Realisierung von künstlerischen Aufgaben war, sich jedoch in der Bildenden
Kunst, vor allem in der Malerei, bereits deutliche Entwicklungstendenzen
abzeichneten, die zu dem erhofften Bruch mit der Praxis der Wiederholung der historischen
Voi^aben führten. — Wenige Jahre vor dem Beginn des L Weltkrieges ist das
Ende des Historismus noch nicht erreicht. Die Moderne ist vorhanden, aber noch
nicht zum allgemeinen Prinzip geworden.
Ahnlich wie Gurlitt prophezeit der Kunsthistoriker Albert Kuhn, daß der Nachbildung
der alten und mittelalterlichen Stile nicht die Zukunft gehöre, „die wahren
Künstler sind ihrer längst müde".8
Die Moderne hat nach seiner Auffassung jedoch erst beschränkt Eingang gefunden.
Die meisten Kunstgelehrten und wissenschaftlichen Kunstfreunde verhielten sich ablehnend
, weil sie sich die Genese der Formen weitgehend nicht erklären könnten.
„Wir sahen tüchtige, keineswegs in einen Stil verbohrte Kunstkenner, welche in modernen
Kirchen völlig ratlos dastanden; sie erkannten z. B. die Gesamtharmonie an,
vor den neuen Einzelbildungen dagegen versagte ihr Kunstkatechismus vollständig".9
So vorsichtig Kuhn von seiner „Prophetengabe" hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung
Gebrauch macht, so deutlich ist hingegen seine Kritik am Historismus, dem
er einen „unmöglichen Anachronismus"10 vorhält. Kuhn sagt vorher, daß eine nahe
Zukunft über dessen Werke strenges Gericht halten und seine „Unzulänglichkeit und
kalte Nachahmung nachweisen würde".11
2. Widersprüche des Historismus
Gurlitts und Kuhns Kritik decken sich in der Bezweiflung der künstlerischen Leistungen
des Historismus. Es sei in diesem Jahrhundert zum Lehrsatz geworden, „das
Alte, Vergangene sei das Gute, wir können nur durch dieses zum Besseren gelangen.
Alle Kraft des Könnens wurde dem Alten, dessen Erhaltung, dem Streben gewidmet,
etwas zu erzeugen, das so aussah, als sei es nicht von uns, sondern von unseren Ahnen
vor sieben, acht Jahrhunderten geschaffen worden",12 charakterisiert Gurlitt das
Ideal der vergehenden Epoche.
Gurlitt führt aus, in welchen Zwiespalt man die Künstler durch eine solche „Stilzwangsjacke
"13 gebracht habe. — „Je freier, je ernster der Künstler schuf, je tiefer
er sich in Vergangenes versetzte, um so klarer mußte ihm werden, daß er etwas viel
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