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wähl 1891 erhielt die SPD ihre ersten beiden Mandate in der II. Kammer: bei der
Reichstagswahl von 1893 fielen im Reich 14 % der abgegebenen Stimmen und 1898
19 % an die SPD, meist zu Lasten der Nationalliberalen.
Rasanter Aufschwung der Arbeiterbewegung in Baden stellte sich nach der Jahrhundertwende
ein. Die badischen Entwicklungslinien liefen freilich anders als anderswo
in Deutschland, vornehmlich in Preußen. Dort konnte es aus der Sicht der
Arbeiterschaft angesichts von Junkerherrlichkeit, rigidem Herr-im-Haus-Standpunkt
des Unternehmertums und Militarismus keinen Zweifel daran geben, daß der Staat
ein Herrschafts- und Repressionsinstrument der Bourgeoisie sei. So fielen dort Klassenkampfgedanken
auf fruchtbaren Boden, die Vision einer neuen Gesellschaft entstand
. In Baden sah man die Dinge in Nuancen anders.
Die Entwicklung der Sozialdemokratie führte zu innerparteilichen Spannungen
über den einzuschlagenden politischen Weg: „Revisionismusstreit". Die anderswo so
gescholtene „großherzoglich-badische Sozialdemokratie" ging in Theorie und Praxis
eigene Wege. Stichworte hierfür sind „Gegenwartsarbeit" und „Attentismus". Die sozialdemokratische
Landtagsfraktion der badischen II, Kammer hatte sich wiederholt
entgegen Pärteitagsbeschlüssen der Gesamtpartei auf Reichsebene zur Bewilligung
des badischen Staatshaushalts durchgerungen, wo doch die Nichtbewilligung als
Kampfmittel gegen den reaktionären Staat greifen sollte. Die Badener wollten aber
lieber „Gegenwartsarbeit" an der Basis leisten, anstatt der Traumwelt eines Gleichheitsparadieses
nachzuhängen. Wilhelm Kolb, August Dreesbach und Ludwig Frank
waren die innerparteilichen Reformpolitiker, die ob ihres der Generallinie der Partei
entgegenlaufenden „Revisionismus" an den Rand des Parteiausschlusses gerieten und
dies, obwohl Ludwig Frank bereits als designierter Nachfolger von August Bebel gelten
durfte,14
c) Kirche und Sozialismus
Johann Hinrich Wicherns Gründung der (keineswegs kirchenamtlichen, sondern
freien) „Inneren Mission" auf dem Kirchentag 1848 in Wittenberg hatte Verständnis
für die heraufziehende „soziale Frage" erkennen lassen. Aber „Wicherns soziale Anregungen
wurden von der offiziellen Kirche und von der „Inneren Mission" nicht
verwertet. So hat der soziale Gedanke, nachdem er in der Theologenschaft gezündet
hatte, sich eigene Organisationen geschaffen." 15 Der erste Versuch einer ausgesprochenen
Parteigründung dieser Art wurde von dem evangelischen Hofprediger Adolf
Stöcker unternommen,
In Berlin gründete er 1878 die „Christlich-soziale Arbeiterpartei". Konkrete Vorschläge
zu Verbesserungen der sozialen Lebensbedingungen in der Arbeiterschaft
gingen in das Parteiprogramm ein. Dessen anti-sozialdemokratische Grundidee hatte
das Ziel, die dort organisierten Arbeiter „in ein konservatives Fahrwasser zu lenken.
Stöckers Intention war es, durch eine aktive Sozialpolitik das Industrieproletariat gegen
die Sozialdemokraten zu immunisieren und sie an den monarchisch-konservativen
Staat zu binden.**16 Das gelang nicht. So wurde aus der Arbeiterpartei 1881 eine
„Christlich-soziale Partei" mit Anlehnung an die Konservativen, zunehmend mit antisemitischen
Zügen. Sie war von vornherein beschränkt auf einige Gebiete Westdeutschlands
, „aber dafür sehr bodenständig verwurzelt in einer in breiten Schichten
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