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nämlich nicht bloß der evangelische Pfarrer, sondern auch die evangelische Krankenpflegerin
und der Diakonissenhausverwalter samt Haus und Zubehör müssen von nun
an nationalliberal sein, wenn sie Anspruch machen wollen auf Liebe, Barmherzigkeit
und Treue in ihrer Brust. Gebärden sie sich aber nicht nationalliberal, so sind sie
rohe, untreue, unzuverlässige Naturen, denen man Arme, Schwache, Kranke in den
Diakonissenhäusem nicht weiter anvertrauen darf. Solche Leute hat's im evangelischen
Pfarrerstand. Und ein solch ,unföhiger" Mann ist auch der Diakonissenhaus-
pforrer Karl in Freiburg in den Augen des nationalliberalen Herrn Landgerichtspräsidenten
zu Freiburg. — Schicksal des Laokoon! Es wird mir Uibel."
Selbst in politisch sonst eher zurückhaltenden kirchlichen Blättern fanden sich erregte
Kommentare. So schreibt ein Kommentator im „Evangelischen Kirchen- und
Volksblatt":56 „In ganz übler Weise sind durch eine von den liberalen Parteien am
13. März in Freiburg gehaltenen Versammlung die Leidenschaften erregt worden.
Landgerichtsdirektor Dr. Obkircher hielt eine lange Rede über die gegenwärtige politische
Lage im Reiche und in Baden ... und wies den Vorwurf mangelnden Verständnisses
seiner Partei für die Kirche als unbegründet zurück. In der Diskussion ergriff
auch der Verfasser der bekannten Schrift wider die Kirchenpolitik der nationalliberalen
Partei in Baden, Diakonissenhauspfarrer Karl von Freiburg, das Wort und begründete
in ruhigen, sachlichen Ausführungen die Anklagen, die er in seiner Broschüre
gegen die Liberalen gerichtet hatte. Die überzeugende Klarheit seiner Darlegungen
reizte den Freiburger Landgerichtspräsidenten Uibel zu heftigem, persönlich beleidigendem
Widerspruch. Er redete von KarFs Schrift als einem giftgeschwollenen
Pamphlet, bezweifelte, daß ein Mann, der aus dem Hinterhalt wie ein Mörder seinen
früheren Parteigenossen mit dem Messer an die Kehle gesprungen sei, sich zum Vorstand
eines Liebeswerkes eigne, wie es das Freiburger Diakonissenhaus sei. So redete
einer der ersten Richter des Landes, der sich selbst als kirchlich gesinnten, dem rechten
Flügel der Nationalliberalen angehörenden Protestanten bezeichnete, ein hervorragendes
Mitglied der letzten Generalsynode, gegen einen Diener der Kirche, der
doch nur berechtigte Interessen der Kirche verfochten hatte!"
Den wochenlangen Schlagabtausch der Verbündeten beider Kontrahenten, das Hin
und Her der kontroversen Positionen und die Gewichtung der rhetorisch-polemischen
Spitzen hat das örtliche Zentrumsblatt (in der vorliegenden Angelegenheit selbst Partei
) zusammenfassend noch einmal referiert (s. Abb. 4)57.
Inzwischen war der Landtagswahlkampf auch anderswo im Lande in Fahrt gekommen
. Am Ostermontag, 12. April 1909, hatte Karl auf einer stark besuchten Wahlversammlung
in Schwetzingen vor einer offensichtlich aufgeschlossenen Hörerschaft die
Standardthemen seiner Argumentation vorgetragen; die Presse hat darüber ausführlich
berichtet.58 Karls Ausführungen zur örtlichen Wahlkampfsituation, die in seinem
erhalten gebliebenen Redemanuskript noch vorliegen, gingen von folgenden Prämissen
aus: „Wir werden im Herbst zweifellos nicht nur den Kleinblock der
Liberalen mit den Demokraten, wir werden den Großblock haben, das Bündnis mit
den Sozialdemokraten. Glauben Sie, daß die Aufstellung der Kandidatur Klein in
Schwetzingen nicht sicher mit auf den Großblock rechnet? Wer soll denn Klein wählen
, wenn es nicht die Sozialdemokraten tun? Es wird doch hoffentlich niemand glauben
, daß die Liberalen aus eigener Kraft stark genug sein werden, Klein durchzubrin-
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