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Horst Buszello - Krise, Reform und neuer Aufschwung
„Armut" und „Vermögen"
Eine Aufgliederung der Freiburger Bevölkerung
nach arm und reich erfordert einige definitorische
und methodische Vorklärungen.54
„Armut" ist ein vielschichtiges Phänomen, in
dem sich wirtschaftliche, soziale und psychischmentale
Defizite bündeln. „Dem Armen fehlen
Geld, Beziehungen, Einfluß, Macht, Wissen ... Er
lebt von einem Tag auf den anderen und hat keinerlei
Chance, sich ohne die Hilfe anderer aus seiner
Lage zu befreien."55 Armut ist überdies ein relativer
Begriff, in seiner konkreten Füllung abhängig
von Situation und Zeit. Selbst wenn man ihn auf
seine ökonomische Komponente begrenzt, den
Mangel an Besitz also, ist eine nähere qualitative
und quantitative Festlegung unumgänglich. Die
moderne Armutstheorie bedient sich dazu der Unterscheidung
von primärer und sekundärer Armut.
Erstere bezeichnet ein Leben auf der Schwelle des
Existenzminimums oder darunter; alle Energien
sind auf die Erhaltung der physischen Existenz gerichtet
. In sekundärer Armut lebt eine Person, deren
Mittel zwar über das hinausgehen, was zur Bestreitung
des Lebensnotwendigen unumgänglich ist,
gleichwohl nur einen geringen Raum für die Teilnahme
am standesgemäßen Leben lassen.
Eine Quantifizierung der Armut ist auch für
Freiburg nur über Vermögenssteuerlisten möglich.
Primäre Armut wird dabei einem zu versteuernden
Vermögen bis unter 50 Gulden gleichgesetzt; sekundäre
Armut umfaßt - bezogen auf die Norm eines
städtischen Gewerbebetriebs - Vermögen bis unter
100 Gulden. Die genannten Armutsschwellen
finden ihre Begründung nicht zuletzt in den Anschauungen
der Zeitgenossen. Eine Freiburger
Steuerordnung von 1476 faßt Vermögen unter 25
Gulden zu einer eigenen Steuergruppe der „Armen"
zusammen: „Dem allem nach ist der anslag und
wirdigung geschehen uff rych und arm. Und uff
die armen in dryerley steten, des ersten drü nüt
gesecztt, die sind under fünffundzweinczig
guldin."56 Unter die „Armen" rechnet die Steuerordnung
„bettler ..., tagloner und holczhower, die
nit nuczliche, werhaffti hantwerck könnend und
doch zunfftig sind [, sowie] handtwerck lüte ..., die
ouch under xxv guldin habent". Als Grenzwert, der
bei der Steuerveranlagung zu berücksichtigen war,
galt also ein Vermögen von etwa 25 Gulden. Man
kommt der sozialen Wirklichkeit aber wohl einen
Schritt näher, wenn man die untere Armutsstufe
weniger strikt am Existenzminimum orientiert, sie
vielmehr auch auf solche Personen ausdehnt, die
mit einem Vermögen bis 50 Gulden in beängstigender
Nähe dazu lebten. Dazu paßt eine Verordnung
des Freiburger Rats von 1546, keine Fremden mehr
in eine Zunft aufzunehmen, „si haben dann [50]
gülden wert guts".57 In Personen mit geringeren
Mitteln sah der Rat offenbar potentielle Almosenempfänger
. Die Annahme, daß ein Vermögen von
weniger als 100 Gulden auf einen Zustand sekundärer
Armut - ohne die Möglichkeit zur Teilnahme
an einem standesgemäßen Leben - verweist,
könnte für Freiburg dadurch gestützt werden, daß
die Inhaber des Zunftmeisteramts, der Ratssitze
sowie der städtischen Amter so gut wie immer ein
Vermögen von mehr als 100 Gulden besaßen. Eine
Ausnahme machten nur die Angehörigen der armen
Rebleutezunft.
Eine Vorstellung von dem, was die genannten
Grenzwerte bedeuteten, vermitteln die Beträge, die
für den Kauf einer Pfründe im Heilig-Geist-Spital
aufzuwenden waren. Eine „Armen-" oder
„Siechenpfründe" - mit Unterbringung in einem
Gemeinschaftsraum, einfacher Kost und Arbeit im
Spitalgarten - kostete etwa 50 Gulden, was dem
Gegenwert eines einfachen Handwerkerhauses entsprach
. Für eine „Mittelpfründe" - mit eigener
Kammer - mußten zwischen 100 und 150 Gulden
aufgebracht werden, für eine „Herrenpfründe"
rund 200 bis 250 Gulden.58
Es darf nicht verschwiegen werden, daß der
Schluß von Vermögenssteuern bzw. Vermögen auf
die reale Lebenssituation der Pflichtigen mit Unsicherheiten
behaftet ist. Abgesehen davon, daß die
vorhandenen Vermögen bei der Steuerveranlagung
nach Möglichkeit untertrieben wurden, werden die
Einkommen nur indirekt und unvollständig berücksichtigt
- nämlich nur insofern , als der nicht
verzehrte Teil zur Vermögensbildung genutzt wurde
. Um der tatsächlichen gesellschaftlichen Ord-
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