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Uhr bereits Mulhouse. Frau K.s Bruder hingegen brachte erst am 23. mittags seine
Milchflasche an den Zug bei der Güterhalle. In der Tat ist bekannt, daß sieben Züge
voller badischer und pfälzischer Juden nach Südfrankreich gerollt sind. Lilli Reckendorf
erinnert sich, daß im Bahnhof von Oloron-Sainte-Marie unweit von Gurs nach
der Ankunft dort stundenlang fünf Züge voller Deportierter nebeneinander auf den
Gleisen standen. Niemand durfte aussteigen. Alles stockte, da im Lager Gurs die Organisation
der Aufnahme noch nicht abgeschlossen war. Als endlich Lastwagen heranrollten
, ging es im Nieselregen - wie Lilli Reckendorf weiß - zu wie auf einem
Viehverladeplatz.26
Über die verheerenden Zustände in dem riesigen von Stacheldraht umgebenen
Barrackenlager Gurs, das ursprünglich zur Internierung von Flüchtlingen des spanischen
Bürgerkriegs errichtet worden und auf die Aufnahme von 15000 Personen
ausgelegt war, wurde schon viel geschrieben.27 Das Lager war nicht leer: Die
Neuankömmlinge stießen dort auf ca. 700 Spanier und mehrere tausend jüdische
Emigranten aus Deutschland und Osterreich, die vor Kriegsausbruch in Frankreich,
Belgien und den Niederlanden Zuflucht gesucht hatten, dort aber von den einmarschierenden
Deutschen bzw. dem Vichy-Regime verhaftet und in Gurs interniert
worden waren. Bei Regen versank das Lager in bodenlosem Morast. Die fensterlosen
Barracken, in denen die Bewohner auf Strohlagern schliefen, waren im Winter
eiskalt. Die Verpflegung war völlig unzureichend. Für zu viele Menschen gab es
zu wenige Latrinen abseits der Barrackenblöcke, der „Hots", die bei Nacht und
schlechtem Wetter nur unter großer Mühe zu erreichen waren. Durchfallkrankheiten
und Tuberkulose grassierten. Von November 1940 bis Januar 1941 starben weit über
600 Menschen an Krankheit und Entkräftung. Mitte März 1941 gab es auf dem
Lagerfriedhof schon 1050 neue Gräber.
Wenigen Glücklichen gelang es mit Hilfe von Bekannten und Verwandten, ihre
Auswanderung zu betreiben, aus dem Lager herauszukommen und Zuflucht in den
USA, der Schweiz oder südamerikanischen Ländern zu finden. Doch wer es bis zum
August 1942 nicht geschafft hatte, Gurs und die inzwischen daneben etablierten
Lager Rivesaltes, Recebedou, Nexon, Noe und Vernet hinter sich zu lassen, konnte
alle Hoffnung begraben. Denn nun erfaßte die von Heydrich und Eichmann betriebene
sogenannte „Endlösung der Judenfrage" auch das unbesetzte Frankreich. Die
Regierung Petain mußte zulassen, daß Züge mit Insassen der südfranzösischen Lager
über die Zwischenstation Drancy bei Paris in die osteuropäischen Vernichtungslager
rollten.
In seinem Buch über die „Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs
1933 bis 1945" stellte Paul Sauer 1969 fest, daß fast 3200 der Deportierten vom
22. Oktober 1940, das sind 71,3 % , in Frankreich oder im Osten ihr Leben verloren.
Es gibt übrigens auch andere Berechnungen, nach denen die Zahl der Ermordeten
weit höher liegt.28
Anmerkungen:
1 StadtAF, M2/127a Nr.73 (Niederschriften der im Oktober 2000 aufgenommenen Zeitzeugenberichte
) und Kl/ 49 Teil 2 B Nr. 5 (Nachlaß Sacksofsky); Der vorliegende Aufsatz basiert auf einem
Vortrag bei der Veranstaltung der Stadt Freiburg zum Thema Gurs. Die Deportation der badischen
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