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„,Geht, ihr Verfluchten'. Es ist ein Gedanke, der uns nicht mehr losläßt. ,Geht, ihr Verfluchten4
, meinen wir, ruft man uns zu, wenn wir uns nach achtzehn Monaten vor den Türen der
Sieger blicken lassen, welche mit Friedensverträgen befaßt sind. ,Geht, ihr Verfluchten',
herrscht man die seit Jahrhunderten eingesessenen Landsleute im Osten an und verjagt sie von
Haus und Hof. ,Geht, ihr Verfluchten4, tönt es über den Atlantik, wo Streiks die Verschiffung
des Weizens verzögern. ,Geht, ihr Verfluchten', erwidert man» wenn wir wegen der Heimkehr
unserer Kriegsgefangenen vorstellig werden. ,Geht, ihr Verfluchten", heißt die Antwort auf unsere
Bitte um Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit des deutschen Landes und Belassung
der für uns lebensnotwendigen Industrie. ,Geht, ihr Verfluchten', meinen wir zu hören,
wenn wir an die Zusammengehörigkeit von Süd- und Nordbaden denken" (S, 102 f.).
Mit apokalyptischer Wucht war der Krieg 1944/45 auch über Baden hereingebrochen; daß
Menschen ihn so erfahren hatten, zeigen die Worte, die Präsident Wohleb in der ersten Sitzung
der Beratenden Versammlung am 22. November 1946 an die Abgeordneten richtete. Wohleb
hatte sich inspirieren lassen vom „Schongauerschen Weltgericht in dem aus tausend Wunden
blutenden Breisacher Münster" (S. 102). In der Vielzahl von Aktenstücken - angefangen mit
„Direktiven der Besatzungsmacht" bis zu einem Gutachten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Freiburg zum Verfassungsentwurf - finden sich immer
wieder Äußerungen, die das Denken, Hoffen und Erleben der Menschen in den ersten Monaten
der Nachkriegszeit spiegeln. Deutlich wird das Mit-, Neben- und Gegeneinander von deutschen
Stellen und Besatzungsmacht, die spät zum Club der Siegermächte zugelassen worden
war und deren Politik keine überzeugende Linie fand. Ansätze zu Entgegenkommen, wenn
nicht diskretes Werben (Interesse an „rapports courtois" zu unbelasteten Deutschen; S. 25)
standen neben Verboten (die öffentliche Erwähnung von Anordnungen der Besatzungsmacht;
S. 3, 52) und herrischen Bekundungen: „que vous aurez ä me transmettre" (S. 172; Schreiben
von Gouverneur Pene an Wohleb mit Wünschen zur Änderung einzelner Artikel des Verfassungsentwurfs
). Suspekt war dem französischen Oberkommando alles, was auf ein wie auch
immer geartetes gesamtdeutsches Gebilde hinauslaufen könnte: So heißt es in einem Schreiben
vom 22.3,1947 zu Artikel 39: „Cet article, qui reconnait la supeViorite* du Reich au droit
du Pays est ä supprimer." (S. 301). Solche Äußerungen zeigen indessen auch, wie aufmerksam
die Besatzungsmacht die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung begleitete.
Als Antwort auf die nationalsozialistische Barbarei wurden in monatelangen intensiven Beratungen
Grundfragen der politischen Gesittung und des Rechtes durchdacht; deutlich wird
das etwa bei Erörterungen zur Todesstrafe (S. 469). Ohne daß das den Handelnden bewußt ge-
wesen wäre, gingen solche Überlegungen auch in das Wirken des Parlamentarischen Rates ein,
der bald darauf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auszuarbeiten hatte.
Einleitung (S. 1-12), Zeittafel (S. 13-15), tabellarischer Uberblick zur Entstehung der Verfassungsartikel
(S. 16-21), Kurzbiographien zu den Mitgliedern der Beratenden Landesver-
Sammlung (S, 53-69), Ubersetzungen französischer Aktenstücke sowie Erläuterungen, Ergänzungen
und Richtigstellungen in den Fußnoten machen diesen Band zu einem unentbehrlichen
Instrument für die Erforschung der Nachkriegszeit in Baden. Ein Wunsch für den
angekündigten zweiten Band: Personen- und Sachregister mögen den reichen Inhalt des Werkes
erschließen. Norbert Ohler
(Süd-)Baden nach 1945. Eine neue Kulturpolitik. Vorträge und Quelleneditionen zum 50jähri~
gen Bestehen des Staatsarchivs Freiburg (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung in
Baden-Württemberg. Serie A, Landesarchivdirektion 14). Hg. v. Joachim Fischer. Verlag W.
Kohlhammer, Stuttgart 1999. 143 S,
„Ich wünsche dem Staatsarchiv Freiburg von Herzen und ad multos annos: vivat, crescat,
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