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fingen an, überall herumzustöbern. Selbst ein Buch Simeons aus der Schulbibliothek
nahmen sie mit. Auch Wertgegenstände wurden vermutlich beschlagnahmt: Die
Eltern besaßen noch einiges aus Deutschland und konnten auf diese Weise hin und
wieder im Valuta-Laden, im „Torgsin",36 einkaufen. Schließlich verschwanden die
Männer wieder - aber Vater musste mitgehen. „Und Vater sagte, seid ruhig, bleibt
ruhig, ich habe nichts verbrochen, ich bin absolut unschuldig (...). Ich habe ehrlich
gearbeitet, ich komme bald zurück. Und er kam nicht mehr zurück."
Selbstverständlich glaubte auch Simeon, dass die Verhaftung seines Vaters auf
einem Miss Verständnis oder auf Übereifer beruhe und ein Fehler sei. In dieser Meinung
wurde er bestärkt, als die verantwortlichen Volkskommissare für innere Angelegenheiten
, denen auch die Geheimpolizei unterstand, nacheinander selbst verhaftet
, verurteilt und hingerichtet wurden: zuerst Genrich G. Jagoda (1891-1938), dann
Nikolai I. Jeschow (1895-1939). So entstand nicht nur bei Simeon, sondern bei zahlreichen
betroffenen Menschen in der Sowjetunion das Bild, Stalin sei gut, wisse nur
nicht alles, versuche aber, die Verantwortlichen für Fehler und Verbrechen zu bestrafen
. Das volle Ausmaß des Terrors konnte auf diese Weise verschleiert und wohl
auch verdrängt werden. Erst nach Stalins Tod 1953 kamen nach und nach Einzelheiten
ans Tageslicht, wenngleich eine gründliche Aufarbeitung dieser Zeit noch
lange auf sich warten lassen sollte. Besonders erschütterte Simeon Dmitrewski, dass
selbst die Frauen des zeitweiligen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare -
also des Ministerpräsidenten - und Außenministers Wjatscheslaw M. Molotow
(1890-1986) sowie des Staatsoberhauptes Michail I. Kalinin (1875-1946) Opfer des
Terrors geworden waren, ohne dass sich ihre Männer dagegen gewehrt hatten. Er
selbst hatte während des Krieges erlebt, wie viele Divisionen anfangs von Leutnanten
befehligt wurden. Erst heute wurde ihm klar, dass der Terror, der vor der Armee
nicht Halt machte, dafür verantwortlich gewesen war. 1943 war ein Regimentskommandeur
zu ihnen an die Front gekommen, den Marschall Konstantin K. Rokos-
sowski (1896-1968) aus dem Lager geholt hatte, in dem er wie viele andere hohe
Offiziere saß - vorher war er Lehrer an der Generalstabsakademie der Roten Armee
gewesen.37 Solche Einzelheiten wusste man natürlich, aber man kannte nicht das
Ausmaß und glaubte an partielle Missverständnisse oder eben Fehler der Geheimpolizei
, die von Stalin korrigiert werden würden.
Trotz der Absetzung Jagodas und Jeschows kam der Vater nicht frei, hier schien
also die „Wahrheit" immer noch nicht zu Stalin gedrungen zu sein. 1941 wurde
Simeon mitgeteilt, sein Vater sei an einer Halsoperation gestorben. Was wirklich geschehen
war, konnte er erst infolge der von Gorbatschow eingeleiteten Perestroika
rekonstruieren. Er begann nachzuforschen und wandte sich auch an den KGB, das
„Komitee für Staatssicherheit", wie die Geheimpolizei jetzt hieß. Nach langer Zeit
und wiederholten Nachfragen erhielt er am 30. Januar 1992 von der KGB-Verwaltung
für den Leningrader Bezirk unter dem Zeichen N 10/40-M-71301 folgendes
Schreiben: „Werter Simeon Michailowitsch. Auf Ihr Gesuch mit der Bitte, Sie über
das Schicksal Ihres Vaters zu informieren, der schuldlos im Jahre 1937 repressiert
wurde, teilen wir mit: Dmitrewski M. S. wurde am 17.10.1937 aufgrund einer
falschen Anzeige, er habe Spionage und Diversionsarbeit zugunsten eines ausländischen
Staates betrieben - also entsprechend § 58 Punkt 6 und 11 des Strafrechtes der
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