http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2002/0064
Franzosen erobert, was im Frieden von Nymwegen von 1678 sanktioniert wurde.
Die Universität verließ Freiburg und ging nach Konstanz ins Exil. Die „juristische
Fakultät der französischen Universität in Freiburg war nie als Rat- und Spruchkollegium
tätig. In sich uneins und gespalten in eine österreichisch gesinnte und in eine
franzosenfreundliche Partei, war die Fakultät niemals kollegial gutachtend tätig und
hatte auch keine überörtliche Bedeutung erlangt. [...] Selbst die Stadt übergab ihre
Prozessakten, wenn sie kollegialen Rat für erforderlich hielt, nicht der städtischen
Juristenfakultät, sondern bevorzugte das - seit 1681 gleichfalls französische - Straßburger
Spruchkollegium", wie es auch hinsichtlich Barthel und Franz Kühnlin der
Fall war.42 Ein Zwang, der Empfehlung der Rechtsverständigen Folge zu leisten, bestand
jedoch nicht. Ein gerichtliches Gutachten war nach gemeinem Recht „keine
bindende Vorentscheidung über die Rechtsfragen, sondern sachkundiger Rechtsrat
für die richterliche Entscheidung",43 was die Straßburger Rechtsgelehrten aber nicht
daran hindert, gehörigen Druck auf den Freiburger Rat auszuüben, der aber am Ende
Urteile fällen wird, die von den höchst energisch gegebenen Empfehlungen stark abweichen
.
Der Fall Franz Kühnlin: Die gemeinrechtliche Lehre vom dolus
Nach anfänglichem Leugnen, Unzucht mit seiner jüngeren Schwester Maria getrieben
zu haben, ist Franz Kühnlin geständig, versucht jedoch, seine Missetaten mit
Unwissenheit zu entschuldigen und somit die eigene Verantwortung zu vermindern.
Er sei zu der Zeit, als er Unzucht mit seiner Schwester Maria verübt habe, noch gar
nicht geschlechtsreif gewesen, und habe nicht gewusst, dass diese Tat eine schwere
Sünde und Unrecht sei. Zudem sei er durch die Erzählung eines anderen, der ihm
gesagt habe, „wie er es mit seinem Eheweib macht", angespornt worden, „dergleichen
an seiner jüngeren Schwester zu probiren, und nachzutun". Abschließend
führte er als Entschuldigungsgrund noch eine ihm angeblich eigene „ländliche Einfachheit
" an, die man daran erkennen könne, dass er schließlich alles „sofort und
präzise" gestanden habe.44
In der Beurteilung der Aussage Kühnlins durch die Straßburger Juristen kommen
deutlich Grundsätze der gemeinrechtlichen Theorie zum Ausdruck, die ein
Verbrechen als „rechtswidriges und schuldhaftes menschliches Verhalten"45 auf-
fasste. Als Voraussetzung für seine Strafbarkeit wurde die Schuld angesehen, die
auf zweierlei Arten in Erscheinung treten konnte, entweder als Fahrlässigkeit
{culpa) oder als Vorsatz {dolus). Ein Irrtum über tatsächliche Umstände, wie er von
Franz Kühnlin für sich reklamiert wird, hätte eine Vorsätzlichkeit ausgeschlossen.46
Die Straßburger Rechtsgelehrten versuchen also, in seinem Handeln Vorsatz, Bos-
haftigkeit und Arglist nachzuweisen. Sie führen ins Feld, dass er, wenn er auch
vielleicht noch nicht „in plena pubertate", so doch nahe daran und ohne Zweifel
des Vorsatzes fähig gewesen sei („doli capax"). Von Unwissenheit könne keine
Rede sein, da er das Verbot wohl gekannt habe, oder es zumindest hätte kennen
sollen. Zudem habe er seine Untaten heimlich verübt, was nach Johannesevangelium
und Cicero ein untrügliches Zeichen dafür sei, dass er sich seiner Schuld sehr
wohl bewusst gewesen sei. Dies erlaube es auch, die „rustica simplicitas" auszu-
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