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lin der Folter, bekam aber zusehends Zweifel, ob sie in diesem Fall sinnvoll und vor
allem ob sie überhaupt rechtlich erlaubt sei. An ihrem Sinn zweifelt der Rat, da
Kühnlin die Taktik verfolgt, unter der Folter sofort zu gestehen, um den Abbruch
herbeizuführen, danach aber sofort zu widerrufen. Rechtliche Bedenken hat er, da er
zur Annahme des bloßen Versuchs neigt, der aber nicht als Kapitalverbrechen angesehen
wurde und die Folter nur bei diesen angewandt werden durfte: „Weilen wann
auch gleich alles, was vorbracht worden, auff ihn Kühnlin erwiesen were, er selber
auch eingestünde, dennoch er deßwegen am leben nicht könnte gestraffet werden,
angesehen, was vorgangen, nur in terminis criminis attentati blieben were, in welchen
fällen non poena ordinaria, sed t[ame]n extraordinaria, und auffs höchste in hac
hypotesi die condemnatio ad triremes [Galeerenstrafe], Stadt haben würde, folglich
er, mit recht, peinlich nicht könnte befraget werden. Cum tortura in causis non capi-
talibus non habeat locum, per jura notissima".59
Auf diese Ausführungen reagieren die Straßburger Rechtsgelehrten in ihrem
zweiten Gutachten ziemlich ungehalten. Sie „wünschten, dass dergleichen rationes
dubitandi niemandem, ex amplissimo ordine senatorio, je weren zu sinn kommen,
weniger dass in publico solche und und dergleichen proponiret worden, sonderlich
dass diese des Barthel Kühnlin an seiner leiblichen Tochter verübte Unzucht, nicht
pro crimine incestus consummati, sondern nur attentati zuhalten: folglich den üblichen
rechten nach, er Kühnlin weder am leben zu bestrafen, noch darüber bey solchen
umbständen peinlich zu befragen seye".60 Das Urteil der Hebammen fechten
die Straßburger Gutachter energisch an. Da sie „weder vatter noch söhn, wie die
beschaffen, iemahlen besehen", könnten sie auch nicht sagen, dass „diese perso-
nen, forte propter penis crassitatiem [wegen der Größe des Glieds], dergleichen zu
verüben nicht möglich geweßen", ihr Attestat sei also „non tarn veritatis, quam cre-
dulitatis"61 aufzufassen. Zudem führen sie an, dass es gar „nicht praecise in den
rechten erfordert würdt", dass jemand seinen Samen in den Leib der Tocher im-
mittiere, sondern genüge, wenn er es so weit treibe, dass er seiner „kochenden Lust
Genugtuung" verschaffe. Es sei schon als verübter Inzest zu werten, wenn jemand
seinen Samen über dem Bauch der Tochter emittiere, wie Petrus Cavallinus, Matthias
Berlichius62 und viele andere Doktoren bezeugten.63 Von Kühnlins Taktik, zu
gestehen, um danach zu widerrufen, sollten sich die Freiburger Ratsherren nicht
irre machen lassen. Dieses Vorgehen sei in derartigen Fällen gottlosen Menschen
gemein, jedoch nutzlos. Denn es gebe nur neue Indizien an die Hand, um die Tortur
fortzuführen. Sollte Kühnlin aber auch nach wiederholter Folter nicht geständig
sein, könne sich der Rat damit trösten, alles versucht zu haben, was er in seiner
obrigkeitlichen Stellung und seiner richterlichen Pflicht nach zu tun gehalten
war.64 Die Straßburger Gutachter legen ihnen nachdrücklich nahe, Barthel Kühnlin
nochmals der Folter zu unterziehen, um ihn so zu einem beständigen und vollständigen
Geständnis zu zwingen, und die Todesstrafe, die poena gladij, an ihm zu
vollstrecken.65
Die Scheu des Freiburger Rates davor, Barthel Kühnlin weiterhin der Tortur zu
unterziehen, ist jedoch nicht nur auf seine rechtlichen Skrupel, sondern zumindest
zu einem Teil auch auf Kühnlins verwegen aufsässiges Verhalten zurückzuführen.
Der renitente Delinquent zeigte sich nämlich in der für ihn prekären Situation kei-
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