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ren auch das Naturrecht und das jus gentium in seinen naturrechtlichen Bestandteilen
zugerechnet. Das göttliche Recht der Heiligen Schrift und das Naturrecht standen
sich insoweit nahe oder wurden teilweise als identisch betrachtet, als Gott seiner
Schöpfungsordnung sein Recht eingepflanzt hatte und dieses göttliche Recht
nach der Lehre der Theologen durch die menschliche Vernunft {ratio) erkannt werden
konnte. Hinzu kam das Naturrecht in der Prägung des römischen Rechts. Dem
Naturrecht nahe standen ferner Teile des jus gentium. Grundlegende Bedeutung für
das „System des jus commune" hatte die Unterordnung jeglichen von Menschen gemachten
Rechts unter das göttliche Recht.96 Diese Grundvoraussetzung blieb bis ins
18. Jahrhundert hinein gültig und wurde selbst von der „absoluten Monarchie der
europäischen Neuzeit [...] nie geleugnet".97 Die Hierarchie in der Abfolge von göttlichem
Recht und Naturrecht, ius gentium und menschlichem ius positivum, die dem
einfachen modernen Gesetzespositivismus vorangeht,98 tritt in den Bibelzitaten, Al-
legationen römisch-kanonischen Rechts und in der Argumentationsstruktur der beiden
Straßburger Gutachten hinsichtlich des Verbots und der Strafwürdigkeit des In-
zests deutlich zutage. Inzest sei, so wird belehrt, durch positives, civiles und kanonisches
Recht, zudem durch das jus naturale und das jus gentium, vor allem aber
durch göttliches Recht strengstens verboten: „Unnd wollen wir hier nicht disputiren,
utrum stuprum tale, sit incestum juris gentium, sive contra jus naturale: an v[ero]
tantum juris positivi? alß worinnen wir jedem seine meynung frey lassen: dieses aber
hier sagen, dass in hypothesi hac gewiß, quod non tantum in genere omnis coitus in-
ter marem et foeminam extra matrimonium a quocunque perpetratus, sit illicitus et
prohibitus. Verum etiam, et vel maxime coitus a fratre cum sorore commissus, ut
pote non tantum iure positivo, civili communi § 2 J. de nupt[iis],99 1. 8,1. 39 §1,1.
54 ff. de r[itu] n[uptiarum],1001. 35 ff. de v[erborum] o[bligationibus]101 et canonico.
can. cum igitur. 35 quaest. I.102 Et passim verum etiam i[ure] naturali sive gentium
D. 1. 8 ff de r[itu] n[uptiarum]103 et d. 1. 35 ff. 1 § de vferborum] o[bligationibus],104
imprimis vero jure divino severe prohibitus, uti videre est in Levit. 18 v. 9. et, c. 20
v. 17.105 Deuteronom 27. v. 22.106 et ap[ud] Ezechiel c. 22 v. 10".107 Auch was die
Todesstrafe anlangt, so sei sie in diesem Fall nicht nur „in denn gemeinen üblichen
kayserlichen rechten [...]", d.h. im menschlichen und positiven Recht, „sondern auch
in den natürlichen und aller Völker rechten,108 ja auch und vornemblichen inn den
göttlichen rechten, denen bluthschändern, sonderlich, qui ascendentes et descenden-
tes primi gradus, verordnet und gesetzet. confer[atur] Levit. c. 18 v. 7 et c. 20 v.
II109. Deuteron, c. 22 v. 30110".111 Der dieses Verbrechens Schuldige sei „mithien
durch urthel und recht, in solche todesstraff zu condemniren", und diese „durch den
scharffrichter an ihm, wie rechtens, mit dem schwert zu exequiren".112
Die Rolle von Geständnis und Folter im Inquisitionsprozess
Wie schon erwähnt, unterscheidet sich der Fall Barthel Kühnlin von den anderen dadurch
, dass kein feststehendes Geständnis vorliegt. Doch erweist sich gerade das Geständnis
als von grundlegender Bedeutung, wenn die Gutachter darauf drängen, bei
derart „urgirenten indicien" nun endlich zur Tortur zu schreiten und Kühnlins „be-
kantnuß" zu erlangen, ohne die er doch nicht mit der „poena ordinaria" bestraft wer-
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